So ist das bei Mudda am Sonntag. Statt Langeweile dürfen die Jüngsten alte schwarzweiße Fotoalben wälzen, während die Erziehungsberechtigten Anekdoten und Zoten über eine Zeit austauschen, in der das Ruhrgebiet tatsächlich noch grau in grau und ein Urlaub an der See mehr Kur für Kinder als Trubel oder Animation war. Ein Aufschrei aus der Ecke: Wer ist das denn da mit Kopftuch? Zugegeben, ich war gerade strohblonde vier Jahre alt und kam gerade von dieser mörderischen Ausflugstour Wangerooge-Helgoland (und zurück) zurück. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein, aber irgendjemand hatte mir bei dem Wind das letzte unbekotzte Tuch umgebunden. Den Rest der Familie hatte es auf diesen hölzernen Ruderbooten magentechnisch zerlegt, ich schaute noch tapfer.
Aber warum hast du denn ein Kopftuch auf, warst du damals Moslem? Onkel Peter hat zwar Karl May, Band eins bis sechs gelesen, war jedoch in einem protestantischen Umfeld aufgewachsen. Aber jetzt den unheiligen Monotheismus verteidigen? Nein. „Ein Kopftuch dient immer dem Schutz ...“ fing ich an und redete mich beinahe um Kopf und Kragen, verteidigte ich doch plötzlich den Islam und seine Vorschriften, verteidigte die Frauen, deren freiwillig getragenes Kopftuch oder selbst Schleier auch eine wirksame Verteidigungslinie gegen pseudoerotische Dekadenz sein kann. Doch die vielen Aber im christlichen Abendland machen einen vernünftigen Umgang mit fremden Kulturen eben unmöglich, gipfelt in der vom Volk umjubelten These: Deutschland schafft sich ab. Integration ist beendet. Und als Metapher in der populistischen Zeitung mit den großen Buchstaben: Die Muslima mit dem Kopftuch.
So entwickelte sich bei mir am Ende des Kulturhauptstadtjahres ein dystopischer Gedankengang, die Idee eines pessimistischen Zukunftsbildes. Utopia in Metropolis Ruhr. Saubere Vorgärten, kein Kinderlachen mehr. Grünflächen, die nicht betreten werden dürfen. Graue Gesichter, wohin man sieht. Für einen Döner muss man wieder ins Ausland fahren, frisches Gemüse gibt es nur noch abgepackt im Supermarkt. Der Klang des Ruhrgebiets würde sich verändern, sich auf einen langweiligen deutschen Ton reduzieren. Irgendwie schmeckt der Kaffee nicht mehr. „Meine Freundin heißt Gülsen“, muntert meine Nichte auf, die trüge auch immer ein Kopftuch. Sie fände das nicht schlimm.
Bei uns nebenan wohnen auch Türken, integriert wie die Griechen ein Haus weiter. Aber sie sind immer freundlich und hilfsbereit, dazu ständig beschäftigt mit irgendwelchen Dingen in der Großfamilie. Also doch nur dunkle Wolken, die man schnell vertreiben kann? Ich schaue beim Schreiben mal aus dem Fenster. Kein Mensch zu sehen. Nur ein Laubgebläse dröhnt stoisch die Rabatten frei, schön gezirkelt gestochen und natürlich krautfreie Wege. Im Häuserblock gegenüber hängen bereits die blinkenden Festtagsbilder. Und der Engel sprach: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. (Lukas)
Na dann: Frohe Weihnachten, liebe Christen.
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