Das geht einem schon unter die Haut, wenn plötzlich eine Welle durch das Parkett schwappt und sich das Publikum auf breiter Front von seinen Sitzen erhebt. Standing Ovation für 17 buddhistische Kampfmönche aus dem legendären Shaolin-Tempel in der chinesischen Provinz Henan. Ausgestattet wie Banker in grauen Geschäftsanzügen tanzen sie eine Choreographie des flämisch-marokkanischen Tänzers Sidi Larbi Cherkaoui. In Köln ist Gastspiel-Time angesagt. Nach der Trennung von Amanda Miller und ihrer Truppe pretty ugly war noch Geld für den Tanz übrig. Die Bemühungen, einen namhaften Choreographen für ein hauseigenes Ensemble zu finden, waren nicht von Erfolg gekrönt. Kein Wunder, hätten sich der neue Mann oder die neue Frau doch gleich in den Provisorien eines jahrelangen Interims wiedergefunden, da Schauspiel und Oper vor einer grundlegenden Renovierungsphase stehen. Wenn schon keine eigene Truppe, dann wenigstens ein paar internationale Pralinés der Tanzkunst für ein Publikum, das schon seit dem Aus von Jochen Ulrichs Tanzforum Mitte der Neunziger Jahre ohne diesen Zweig der darstellenden Kunst auskommen muss.
Die Oper oder das Schauspiel sind voll, wenn John Forsythe aus Frankfurt oder die Hubbard Street Dance Company Chicago an den Rhein kommen. Man spürt den Hunger nach Tanz; auch als Amanda Miller in Köln begann, waren die Sitzreihen geschlossen. Eine Faszination, die sich durch alle Generationen zieht, und doch ist die Situation nicht spurlos am Publikum vorübergegangen. Konservativ ist es geworden, handwerkliche Perfektion, Technik und die Abwesenheit experimenteller Ansätze werden begrüßt. Die Hubbard Street Company mit perfekter Professionalität und ihrem keimfreien amerikanischen Verständnis von Erotik wird bejubelt, obwohl als innovativster Ansatz des Abends das Stück „Tabula Rasa“ von Ohad Naharin aus dem Jahre 1986 herhalten muss. Als John Forsythe mit „Yes we can‘t“ eine Choreographie präsentiert, die sich mit moderater Entschlossenheit auf eine Überprüfung bekannter Gesten und Formvorstellungen des gegenwärtigen Tanz-Repertoires einlässt, ist schon ein Murren im Saal zu vernehmen. Von Klassikern unserer Tage wie Anne Teresa de Keersmaeker oder Wim Vandekeybus, sind solch kritische Perspektiven auf das, was heute Tanz sein kann, noch weit entfernt. Essen und Wuppertal bewegen sich in ganz anderen ästhetischen Umlaufbahnen.
Gastspiele bleiben ein zweifelhaftes Vergnügen. Ohne die Begleitung einer eigenen Kompanie und die Möglichkeit, am Ringen der Künstler um neue Ausdrucksformen teilnehmen zu können, entwickelt sich nur schwerlich ein Verständnis für ästhetische Innovation. Schön, dass die Begeisterung vorhanden ist, aber Nachhaltigkeit stellt sich mit sporadischen Vergnügungen nicht ein. 10 Gastspiele sind für die nächste Saison gebucht. Gut so, die Sahne auf dem Kuchen ersetzt jedoch nicht die Grundversorgung. Erst sie liefert jene nahrhafte Kost, von der man auch einmal satt werden kann.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23
Kinshasa und Köln
„absence#4“ im Barnes Crossing – Tanz in NRW 09/23
Tänzerinnen als „bad feminist“
tanz.tausch in Köln – Tanz in NRW 08/23
Das Gras wachsen hören
„Grün“ von tanzfuchs – Tanz in NRW 07/23
Den Blick weiten
Internationales Tanz-Netzwerk Studiotrade – Tanz in NRW 07/23
Visionen, Mut und Fleiß
Rund zehn Jahre Kölner Tanzfaktur – Tanz in NRW 06/23
Dialoge der Körper
SoloDuo Tanzfestival in Köln – Tanz in NRW 05/23
Das überraschende Moment
Bühnenbildner miegL und seine Handschrift – Tanz in NRW 04/23
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Akustischer Raum für den Tanz
Jörg Ritzenhoff verändert die Tanzwahrnehmung – Tanz in NRW 02/23
Kann KI Kunst?
Experimente von Choreografin Julia Riera – Tanz in NRW 01/23
Wie geht es weiter?
Mechtild Tellmann schaut auf Zukunft des Tanzes – Tanz in NRW 12/22