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Foto: Irma Flesch

Jede Menge Apps

01. Juli 2010

Magenbitter 07/10

Gestern bin ich einem Mann mit Killerinstinkt begegnet. Ich verließ gerade den Kaufhof, wo ich bei Saturn ein paar gewöhnliche Druckerpatronen erstanden hatte, als die Fußgängerampel auf Rot sprang. Ich blieb stehen. Ein paar Schritte weiter kam ein lässig gekleideter Mann mittleren Alters heran. Schlank, hageres Gesicht mit Drei-Tage-Bart, hohe Stirn, graues Kurzhaar. Freundliche Augen hinter der modischen Brille. Designer-Jeans, ein schwarzer Rollkragenpulli. Keine Jacke. Er schien über den Boden zu gleiten. Ein sanftes Leuchten umgab ihn. Oder war es das flache Teil, das er hingebungsvoll vor sich hertrug und das ihm die Aura verlieh? Als er meinen Blick spürte, hob er den Kopf und sandte ein besitzerstolzes Lächeln in meine Richtung. „Ja“, strahlte er, „Ich bin’s, und das ist mein iPad.“ Er streichelte das dezente Gehäuse wie eine Katze. „Gutes Design erkennt man nicht am Aussehen, oder wie es sich anfühlt, sondern daran, wie es funktioniert.“ Sein Blick wurde hart, als er den Arm hob. In diesem Moment glaubte ich etwas zu hören, ein Bersten, einen schrillen Schrei. Wie eine Möwe im Anflug. Ich trat automatisch einen Schritt zurück, hob wie gebannt den Kopf und sah nach oben. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Mister X es mir gleich tat. Dann ploppte etwas vor uns auf die Straße. Hautfetzen und Knochen spritzten über den Bürgersteig, ein Kopf platzte auf wie eine überreife Melone und versprühte gräulich fade Gehirnmasse. Blut kroch langsam und zähflüssig aus dem Kleiderbündel. Die Farbe erinnerte an Erdbeersirup. Dabei roch es einen Moment leicht metallisch, dieser Geruch nach totem Fleisch, der manchmal im Supermarkt an der Fleischtheke in die Nase steigt, wenn die Kühltemperatur nicht stimmt. Vor uns lag etwas, das einmal ein lebendiger Mensch gewesen sein musste. Irgendwo begann eine Frau zu kreischen. „Mann“, Mister X bleckte die Zähne, wischte lässig ein paar Spritzer der Gehirnmasse von seinem iPad und dozierte angeregt: „Magnetismus pur, der unter die Haut geht! Eine lückenlose Vernetzung von Phantasie, Hirn und Körper.“ „Aber“, stammelte ich schwach und zeigte auf die größer werdende Lache. Mister X lachte: „Wir schalten die Nervenverbindungen zwischen Auge, Finger und Knie neu. Warum zur Handelsmarine gehen, wenn du Pirat sein kannst? Mehr Mut zum Risiko!“ Er jonglierte mit dem flachen Gerät, warf es in die Luft, fing es auf. In diesem Moment rempelte mich jemand von hinten an, ein Jugendlicher schob sich vorbei. „Eh Alter, grüner wird’s nicht“, rief er über die Schulter zurück und lief über die Straße. Mein Gott, dachte ich und sah, wie Mister X über den Straßenbahnschienen schwebte. Er schien mir zuzuwinken. Die Ampel schaltete wieder auf Rot. Der Verkehr schoss an mir vorbei. Silbern blinkende Mittelklasse-Wagen, ein gelber Bus, zwei dunkle BMW, ein dreckiger Schwertransporter. War ich einem Alien begegnet? Hatte ich halluziniert? War ich vielleicht auf App in 3D? Ich schüttelte mich und überquerte die Straße bei Rot. So viel Risiko muss manchmal sein.

P.S.: Die Redaktion dankt Steve Jobs und Frank Schirrmacher für ihre Sprachgewalt.

Wolfgang Hippe

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