Die Spuren in der Familie sind tief und gravierend, auch wenn niemand je darüber gesprochen hat. Bei einer noblen Geburtstagsfeier auf einem Landhotel sagt ein Sohn in einer Tischrede die Wahrheit über seinen Vater, der ihn und seine Schwester in jungen Jahren sexuell missbraucht habe. Die anderen Geschwister und die Mutter wollen davon nichts hören oder wissen, der Vater will alles vergessen haben. Thomas Vinterbergs „Das Fest“ war der 1998 der erste Dogma-Film und wurde auch an Bühnen ein Erfolg. Charlotte Sprenger, derzeit auch mit „Draußen vor der Tür“ und „Clockwork Orange“ auf den Kölner Spielplänen, inszeniert die letzte Premiere in der Kleingedankstraße, bevor das Theater der Keller im Juli auszieht und Ende September vorläufig in der Tanzfaktur am Deutzer Hafen weitermacht.
choices: Charlotte, wie kamst du mit diesem Stoff in Berührung?
Charlotte Sprenger: Ich kenne den Film schon total lange und es war einer der verstörendsten Filme, die ich damals bis dato gesehen hatte, und die Art, wie die spielen und wie sich diese Psycho-Geschichte entblättert, hat mich schon immer total interessiert. Und dann habe ich überlegt, was ich hier machen kann als Stoff. Mich hat der Gedanke interessiert, das nicht in einer regulären Familienkonstellation zu besetzen, also mit roundabout 50-jährigen Mutter/Vater, roundabout 30-jährigen Kindern, sondern das eben mit einer Generation zu besetzen. Und da ich ja hier bis jetzt immer in Kooperation mit der Schauspielschule Der Keller gearbeitet habe, was ich auch weiter machen wollte, hat sich das dann so gut ergeben.
Die naturalistische Spielweise der Schauspieler im Film, führst du die hier auch weiter?
Nein, das funktioniert ja am Theater so nicht. Oder es kann in bestimmten Konstellationen total gut funktionieren, aber das fände ich jetzt für dieses Stück nicht so interessant. Was [Thomas Vinterberg] macht, dabei geht es ja nicht um die Form, die natürlich auch wichtig ist, sondern die Form bezweckt ja, dass in dem Film eine größtmögliche Authentizität stattfinden kann. Und das versuche ich auch am Theater, aber man kommt am Theater auf sehr viele unterschiedliche Arten zu einem authentischen Sprechen und zu einem authentischen Leben auf der Bühne, und ich glaube, das hat nicht unbedingt mit Realismus oder vermeintlichem Realismus zu tun. Ich versuche immer, dass ich mir das glauben kann, was ich da mache, und auch dass die Schauspieler sich das glauben können, was sie machen. Und im Zweifel haben die Schauspieler nicht das erfahren, was die Figuren in dem Stück erfahren haben, und da muss man einen Weg finden, wie man das, ohne sich darüber zu erheben, [wiedergeben kann]. Wie es Missbrauchsopfern geht – das hat mich jetzt nicht interessiert, das kann ich nicht, dann schaue ich mir lieber eine Dokumentation an oder rede mit jemandem, der das erlebt hat. Es geht ja mehr darum, dass man einen Außenblick darauf zeigt. Das ist ja im Theater immer wichtig, glaube ich, dass du deine eigene Wahrheit suchst, und die kann ich ja nur suchen, indem ich meinen Blick darauf versuche zu finden. Das ist kompliziert genug, aber dann hat es glaube ich eine Authentizität. Aber wenn ich mir jetzt weinende Kinder vorstelle, das weiß ich ja gar nicht, ich glaube, das ist eher anmaßend, als wenn man versucht, den Blick darauf zu finden.
In Stücken wie „Draußen vor der Tür“, „Kleines“ und „Clockwork Orange“ hat du schon Wehrlosigkeit thematisiert, die missbraucht wird. Inwiefern stellt sich die Bewältigungsfrage hier wieder?
Wahrscheinlich am stärksten oder offensichtlichsten natürlich in diesem Stoff. Ich glaube mich interessiert in solchen Situationen, was passiert, wenn alle gesellschaftlichen Konventionen ad absurdum geführt werden, wenn das nichts mehr zählt und was dann los ist bei Menschen. Oder was gesellschaftliche Konventionen mit vermeintlich kranken Menschen machen. Und ich glaube beim Theater können wir ja irgendwie… Was zum Beispiel bei Frank Castorf beeindruckend ist, ist dass man wirklich eine Welt sieht, die viel mit unserer Realität zu tun hat, aber da sind Spielweisen und Umgangsformen miteinander möglich, die in der Realität nicht möglich sind. Das ist schon etwas, was ich auch spannend am Theater finde.
Du inszenierst das letzte Stück in der Kleingedankstraße – wie empfindest du hier die Stimmung?
Das ist schon traurig, also ich bin auch irgendwie traurig darüber, gar nicht wegen mir persönlich, sondern weil ich das wirklich skandalös finde, dass das hier geschlossen wird. Auch wenn es sicher für das Theater der Keller weitergehen und gut werden wird, dieser Ort ist schon irgendwie speziell und ist mir auch sehr ans Herz gewachsen. Und ich finde der hat ja auch eine große Geschichte. Ich muss sagen, dass es für mich gar nicht verständlich ist, dass das durchgeht. Wenn man sich vorstellt, dass in diesen Räumlichkeiten bald irgendwie Luxuswohnungen sind – da ist irgendwas nicht richtig mit unserer Gesellschaft, dass das passieren darf.
„Das Fest“ | R: Charlotte Sprenger | 3.(P), 5., 18., 19., 21.5., 1., 2., 16., 20.6., 12.7. | Theater der Keller | 0221 31 80 59
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