Was ein Genie ist, darüber ist sich selbst Wikipedia nicht einig. In der Kunst wird Neo Rauch derzeit als Maler-Genie gefeiert. Viele, die mit seinen postsozialistischen Tableaux wenig anfangen können, werden das anders sehen. Im Tanz wagt sich bislang niemand, einen Tänzer oder Choreografen als Genie zu bezeichnen. Er/sie ist allenfalls „genial“. War Merce Cunningham ein Genie, von dem der ehemalige FAZ-Kritiker Jochen Schmidt sagt, dass er „mehr in Bewegung gesetzt und mehr ästhetische Trends ausgelöst (hat) als irgendein anderer in der Welt des Tanzes“? War Pina Bausch ein Genie, die als „Erfinderin“ des Tanztheaters sicher die weltweit einflussreichste Choreografin wurde? Möglich, dass die Tanzkritik noch nicht erkannt hat, dass der bisherige Genie-Begriff überholt ist. Möglich, dass man sich vor unabänderlichen Festlegungen scheut, weil man schon von der nächsten Choreografie des Genies widerlegt werden könnte. Der IQ als Messlatte hat ausgedient. Gleichwertig neben der geistigen Leistung können auch eine herausragende künstlerische Kreativität und außergewöhnliche Schöpfungskraft jemanden zum Genie machen. Merce Cunningham und Pina Bausch waren Genies! Sie haben nicht nachgeahmt, sondern Einmaliges geschaffen. Sie haben Generationen von Tänzern und Choreografen geprägt.
Auch aktuell gibt es geniale Tanzschaffende, die das Zeug zum Genie haben. Mit einem Meisterwerk der Extraklasse hat sich der Chefchoreograf des Düsseldorfer Ballett am Rhein, Martin Schläpfer, dafür empfohlen. Seine Choreografie „Neither“, auf deutsch: „Weder“, zur gleichnamigen Oper von Morton Feldman und Samuel Beckett macht atemlos. Zur Oper heißt es: Kein Werk ist so glasklar ungefähr. Schläpfer macht dieses Ungefähre sichtbar. Er findet für Becketts abstrakten Text um das menschliche Selbst eine unglaublich präzise Tanzsprache, und er gibt Feldmans Musik eine unnachahmlich schöne tänzerische Form. Das Geniale aber ist die Stimmung, die sich völlig unerwartet wie ein Schleier kollektiven Empfindens über den ganzen Saal legt und wohl jeden ergreift. Ob Schläpfer ein Genie ist, mag dahingestellt sein. Aber dieses Ballett ist ein Geniestreich sondergleichen. Es macht erstmals die andere, noch weitgehend unerschlossene Qualität des Tanzes sichtbar, in die Tiefen wirklicher Abstraktion vorzudringen. Das Ballett wird in der Spielzeit 2010/2011 wieder aufgenommen.
Am Anfang jeder Entwicklung zum Genie aber steht das Talent. Deshalb hatte die neueste Einrichtung des Tanzes in NRW, das „Tanzhaus Köln – interim“ den choreografischen Nachwuchs zur Talentprobe gerufen. Fünf U- 30-ChoreografenInnen stellten sich in 13-Minuten-Beiträgen einer Fachjury. Erstaunlich, welch hohes Niveau die Beiträge hatten.
Prämiert wurde das Solo-Tanztheater „Passt eine Seele in meine Haut?“ von Katharina M. Horn (Oldenburg), in dem sie Kurt Weills Öl-Musik eindrucksvoll vertanzte. Der angemessen sensible Umgang mit Musik: eine Conditio sine qua non, eine unabdingbare Voraussetzung für Talent wie Genie.
www.operamrhein.de I www.tanzhaus-koeln.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23
Kinshasa und Köln
„absence#4“ im Barnes Crossing – Tanz in NRW 09/23
Tänzerinnen als „bad feminist“
tanz.tausch in Köln – Tanz in NRW 08/23
Das Gras wachsen hören
„Grün“ von tanzfuchs – Tanz in NRW 07/23
Den Blick weiten
Internationales Tanz-Netzwerk Studiotrade – Tanz in NRW 07/23
Visionen, Mut und Fleiß
Rund zehn Jahre Kölner Tanzfaktur – Tanz in NRW 06/23
Dialoge der Körper
SoloDuo Tanzfestival in Köln – Tanz in NRW 05/23
Das überraschende Moment
Bühnenbildner miegL und seine Handschrift – Tanz in NRW 04/23
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Akustischer Raum für den Tanz
Jörg Ritzenhoff verändert die Tanzwahrnehmung – Tanz in NRW 02/23
Kann KI Kunst?
Experimente von Choreografin Julia Riera – Tanz in NRW 01/23
Wie geht es weiter?
Mechtild Tellmann schaut auf Zukunft des Tanzes – Tanz in NRW 12/22