Der Gedanke, als Neugeborenes vertauscht oder später Gegenstand einer heimlichen Adoption geworden zu sein, enthält auch angenehme Aspekte. Immerhin öffnen sich damit Türen zu einer neuen Identität. Denn einmal ehrlich, kann dieses Spießerpaar, das da vor dem Fernseher verschimmelt, ein solch interessantes Geschöpf gezeugt haben, das sich für Fremdsprachen interessiert und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen ist? Marvin (Ali Marcel Yildiz) stellt sich solche Fragen, immerhin könnte er so ein „Kuckucksei“ sein. Während er die Welt sehen will, hängen seine Eltern (Harun Ciftçi und Jennifer Ewert) apathisch Zuhause herum. Der Vater hat seinen Job verloren, seither geht es mit der Familie bergab. Diese Eltern sind Marvin fremder als ein Alien.
Deshalb beginnt er die Suche nach seinen „richtigen“ Eltern. Letztlich wird ihm klar werden, dass es keine „richtigen“ Eltern gibt, so wie es auch keine „richtigen“ Kinder gibt. Was zählt, sind die Eltern, die man hat, und aus dieser Situation gilt es das Beste zu machen. Eine andere Erkenntnis kann es nicht geben. Aber zunächst gilt es die Irritation auszuspielen, die Manuel Moser schon mit dem Titel „Kuckucksei“ ankündigt. Das Material für seine Produktionen hat er unter anderem in Gesprächen mit Kölner Kindern eingesammelt. Den Kontakt zur empirischen Realität aufzunehmen ist sinnvoll, wenn das Phänomen der Fremdheit auch über die lokale Inspiration hinausweist.
Fremdheit suggeriert schon die melodiöse aber kühle Musik von Öğünç Kardelen. Die Erwachsenen in ihren bunten Schlafanzügen und einem seltsamen, entrückten Blick wirken wie Schlafwandler, die entweder einen Trip geschmissen haben oder geradewegs aus der Klapse entkommen sind. Wenn uns das Vertraute fremd anmutet, dann öffnen sich die Tore der Wahrnehmung. So wirken die Stationen von Mavins Identitätssuche mitunter grotesk real. Wenn es auch nicht Godot ist, auf den hier gewartete wird, so erinnert die Reise auf der Stelle manchmal doch an einen Ausflug in die Welt des Absurden Theaters.
Ein Stück, das Ali Marcel Yildiz fast vollständig selbst Schultern muss, dennoch versandet das „Kuckucksei“ nicht im Erzählmodus. Marvin muss angesichts der Trägheit seiner Eltern doppelte Aktionskraft entwickeln. Manuel Moser verhindert jedoch Hektik konzentriert sich auf die manchmal ein wenig unheimliche Dynamik des Absurden. Letztlich findet Marvin aber wieder ins Leben, und mehr als nur ein bisschen komisch wirken dann auch die Eltern. Manuel Moser präsentiert eine Produktion, die sich von allem unterscheidet, was derzeit auf den Bühnen für Kinder zu sehen ist. Sein Publikum geht begeistert mit, wenn Mavin die Familiengespenster vertreibt und tatkräftig seine Existenz als Kuckuckskind erforscht.
„Kuckucksei“ | R: Manuel Moser | So 22.11. 16 Uhr & 18 Uhr, Mo 23.11. 10.30 Uhr, Di 24.11 10.30 Uhr | Comedia | 0221 88 87 72 22
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