Klaustrophobische Einstellungen. Schreie. Beklemmende Perspektiven. Pornografische Bilder. Dazu ein und dieselbe konstante, sich wiederholende Streichermusik. Eigentlich ist das, was Visual Artist Terre Thaemlitz dem Publikum präsentiert, auf allen Ebenen ein Albtraum.
Es gibt kein Entkommen. Selbst, wenn man sich die Augen zuhält, hört man die pornografischen Schreie und die laut ins Ohr dröhnende Musik. 85 Minuten wird das noch so weitergehen. Da muss man schon stark sein. Dann setzt der nicht mehr enden wollende Monolog ein. Auch der hat es in sich.
In „Deproduction“, einer Collage aus Lesung und Geräuschen des amerikanischen, heute in Japan lebenden Künstlers und Aktivisten Terre Thaemlitz (*1968), der in New York Kunst studiert hat, 15 Ambient-Alben produzierte und sich mit Identitätspolitik auseinandersetzt, wird alles Schreckliche rund um das Thema Sexualität und Fortpflanzung dem Zuschauer entgegen geschleudert. Es geht um ungewollte Schwangerschaften junger Frauen, Abtreibungen, Inzest, Missbrauch, Beschneidung, schlimme Geburten oder künstliche Befruchtung. Beobachtungen, die der Künstler in Japan machte und festhielt. Ironischerweise aber antithetisch mit Pornos unterlegte. Kurz, um alles, was beim Thema Sex schiefgehen kann.
Da ist Adam, der eine 13-Jährige vergewaltigt und sie daraufhin heiraten möchte, damit alles wieder gut wird. Da ist Kevin, der seine Tochter sexuell belästigt. Und da ist Jeannie, die im Alter von 57 schwanger wird und Komplikationen hat. Es fließt Blut in Thaemlitz‘ Demontage.
Nach kurzer Zeit schon dreht sich der Magen um. So ist es nicht erstaunlich, dass einige Zuschauer die Kirche alsbald wieder verlassen. Überhaupt ein Porno in einer Kirche. Das muss man erst einmal schaffen. Der oder die Transgender-Künstlerin Terre Thaemlitz, die sich auf kein Geschlecht festlegen möchte, ist dies gelungen. Die schreiende Dekonstruktion von Sex und Familien lief schon auf der Documenta 14 in Kassel, bevor sie es – im Anschluss an den Islamophobie-Vortrag von Arun Kundnani in der Christuskirche – zur Pluriversale der Akademie der Künste der Welt schaffte.
„Es ist unmoralisch, Kinder zu bekommen“, lautet Thaemlitz‘ Aussage. Und: „Familien machen die Demokratie unmöglich. Sie sind heillos mit den Problemen des menschlichen Eigentums verbunden. Sowie mit der Geschlechtertrennung und – Ausbeutung.“ Denn: Familien seien in vielen Ländern noch immer patriarchalisch geprägt. Frauen würden durch das männliche Ejakulat zur Geburt mit all ihren Grausamkeiten getrieben, ob sie dies wollten oder nicht – weil es noch immer als das höchste gesellschaftliche Gut angesehen werde, eine verdammte Familie zu gründen. Sich zu reproduzieren, oft nur um anschließend an den Herd verbannt zu werden. Schuld an alldem sei der Penis und der Kapitalismus. Natürlich stößt der Videokünstler und Electronica-Musiker mit dieser Provokation nicht nur auf Zustimmung. „Die, die herausgegangen sind, würden das wahrscheinlich nicht aushalten, weil sie eben genau solche patriarchalische Machoschweine sind“, sagt Thaemlitz in der anschließenden Diskussion. Gelächter.
Thaemlitz‘ Argumentation ist durchaus an einigen Stellen nachvollziehbar und enthält manches an Wahrheit. Was jedoch bei dem Medienkünstler, der gelegentlich auch „Miss Take“ genannt wird, fehlt, ist eine Alternative: Was heißt das folglich? Keine Kinder mehr in die Welt setzen? Am besten gar keinen Sex mehr zu haben? Zumindest nicht mit einem männlichen Glied? Und: Gibt es nicht auch glückliche Familien und freiwillige Mütter?
Eins steht fest: Nach dieser „Deproduktion“ habe ich Kopfschmerzen ob des Lärmpegels und der orgastischen Schreie, die mir eineinhalb Stunden entgegenschlugen. Zudem ist mir etwas schlecht, da das schummrige wacklige Porno-Video mir wie ein Schiff auf hoher See auf den Magen geschlagen ist. Ich verspüre keine Lust mehr, mir irgendwelche Körperlichkeiten anzusehen. Noch möchte ich momentan Sex haben. Ganz zu schweigen von Reproduktion. Somit hat Miss „Deproduction“ Thaemlitz wohl durchaus an diesem Abend in der Christuskirche ihren Zweck erfüllt.
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