Man sieht nichts. Unter dem Dach in der Alten Feuerwache murmeln verschiedene, zunächst nicht verständliche Stimmen vor sich hin. Worte zu den Themen Tod, Angst und Liebe, dann wieder Nichtiges. Das Verstehen fällt nicht leicht. Die innere Stimme sagt: Bin ich schwerhörig? Ebenfalls merkwürdig erscheint, dass ein mit Jakob Lorenz Mann hinter einem Mikrofon steht und mit seiner Soundinstallation das feministische Festival „Insert Female Artist“ (27.-29.9.) eröffnet. Die Stimmen aus dem Nichts gehören unter anderem Max Frisch und Ingeborg Bachmann (1926-1973). Um Bachmann dreht sich vieles auf dem Festival, der Titel stammt von ihr, und an ihre Traumtagebücher-Überreste ist Lorenz‘ Veranstaltung angelehnt.
Nach der Trennung von Frisch und dem darauffolgenden physischen und psychischen Zusammenbruch schrieb sie Protokolle für ihre Ärzte als Therapie in Form von Träumen auf. Man mag viel über Bachmann lesen und denken, galt sie doch als das „enfant terrible“ der Gruppe 47 und hatte viele Beziehungen. Jakob Lorenz stellte sich jedoch die Frage, wie eigentlich über sie gesprochen wird, fand seltsam, dass dabei sehr viel Klatsch und Tratsch im Spiel ist. Würden die Liebschaften männlicher Autoren genauso erinnert? Wieso wird bei Bachmann ständig über (Ex)-Beziehungen gesprochen?
Unter dem vermeintlich oberflächlichen Gerede der Klangperformance sind Themen wie zu viel Nähe, Krankheiten und Tod versteckt, sie werden jedoch mit alltäglichen Dingen und Männerstimmen „überredet“. Der Titel „Ein Geschäft mit Träumen“ passt insofern, als es bei dem Festival genau darum geht. Werden Frauen anders gelesen und erinnert als ihre männlichen Zeitgenossen? Darf man als Mann die Perspektive einer Frau „stehlen“ und sie ihres Traumes „berauben“? Spannend an der Installation ist, dass erst durch die Interaktion mit dem Mikrofon der Text deutlicher wird. Da Lorenz nicht übergriffig seine eigene Perspektive einsprechen will, ertönt, wenn er spricht, nicht seine, sondern die Stimme der anderen, während er nur zum Verstärker wird. Nun ist dies natürlich eine sehr subjektive Installation: Bachmann war zum Zeitpunkt der Traumtagebücher in einem schlechten Zustand, und Träume sind Träume. Dennoch könnte es mal ein interessanter Ansatz sein, die Perspektive der Schriftstellerin genauer zu untersuchen.
Die Veranstaltung „Männliche Bauchredner weiblicher Erfahrungen“ wird von Svenja Reiner, einer der Leiterinnen des Festivals, und Johannes Franzen geleitet, der sich in seiner Arbeit u.a. mit der Problematik von Fiktionstheorie befasst. Hier wird das konfliktgeladene und aktuelle Thema diskutiert, ob, wie und wann welcher Schriftsteller etwas in Worte fassen darf. Germanist Franzen spricht von „narrativem Eigentumsrecht“: Aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers sei das, was man über eine andere Person schreibt, immer gewissermaßen gewalttätig, stets politisch und häufig sexistisch. Daher die Frage: Dürfen Menschen etwas erzählen, dessen Erfahrung sie nicht teilen? Darf man als Mann frei nach Schnauze eine Vergewaltigung aus der Sicht einer Frau erzählen? Nicht zuletzt ist diesbezüglich ein heftiger Streit entfacht: Während die eine Seite es unter einem politischen Aspekt wichtig findet, den bis dato unterdrückten Frauen ihre Stimmen wiederzugeben, statt sie erneut zu entleihen, sieht die Gegnerseite dies als gefährlichen Angriff auf die Freiheit der Kunst, empfindet es gar als Zensur.
Franzen bringt ein paar Beispiele an, weshalb er sich mehr Regeln in der Literatur zum Thema Perspektiven wünsche: Insbesondere bei Biografien geschehe es häufig, dass die Sichtweisen total subjektiv seien. Oder ein vermeintlich fiktives Buch über Ulrike Meinhof, „Die Genossin“ (1975), geschrieben aus der Perspektive ihres Ex-Mannes Klaus Rainer Röhl, das aus Franzens Sicht nur so vor Subjektivität strotze. Oder die einmal mehr entliehene Ingeborg Bachmann, diesmal aus der Sicht einer weiteren Liebschaft – des österreichischen Autors Hans Weigel. In seinem Roman „Unvollendete Symphonie“ (1951) stellt er sie aus der Perspektive einer Frau dar, was ihn zu einem „unsäglichen Text“ mache, wie der Literaturkritiker Klaus Amann dies kritisiert habe.
In der regen Diskussion gibt es auch Bedenken: Ist Fiktion nicht Fiktion, ist nicht alles subjektiv, was wir schreiben? Und wer entscheidet, was besser und erlaubt ist? Ist Literatur nicht deshalb schön, weil sie es möglich macht, über sich und sein Leben hinauszuwachsen?
Vielleicht gibt es aber doch noch Hoffnung in puncto „Rahmenbrechung“. So schlussfolgert Franzen: Es wäre schön, wenn eben nichts verboten werden müsste. Wenn der weiße, männliche Autor sehr wohl auch andere Perspektiven einnehmen könnte, auch die einer Frau, sofern er jene reflektierte und ggf. noch mal dem anderen Geschlecht in die Hand drückte. Denn dann, so sein Vorschlag, würde Literatur sogar besser, da insgesamt von Klischees befreiter.
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