Als das Prinzenpaar samt Hofstaat einmarschiert, hält es in der ausverkauften Historischen Stadt- halle niemanden mehr auf den Sitzen. Prinz Michael I. verschenkt Luftküsse an das gemeine Volk, es regnet Tulpen auf die Närrinnen. Sein Zug ist militärisch uniformiert, bis an die Zähne bewaffnet, aus den Gewehrläufen ragen Plastikblumen. Flötisten, Glockenspieler, Holz- und Blechbläser, sie ziehen in die Karnevalsschlacht, die Trommeln drohen. „Nur alte Männer“, schreit Mike mir ins Ohr, „kein attraktiver dabei“. Er lächelt. Mike hat sich schick gemacht, wie die meisten hier. Ein dunkler Nadelstreifenanzug, feine Schuhe, rosa Krawatte, „so ein Schlips ist wirklich ungewohnt für mich“. Die „Närrische Stadthalle“ ist der Höhepunkt der bergischen Karnevalssession. Auch Mike ist hier schon einmarschiert, vor acht Jahren, damals als Prinz Mike I., an seiner Seite Prinzessin Bea I. „Der schönste Moment meines Lebens war allerdings der Rosensonntagszug. Die Sonne schien, fast 40.000 Menschen haben uns zugejubelt, ich habe mich wie im siebten Himmel gefühlt!“ Es war die Erfüllung eines Jugendtraums für den gebürtigen Wuppertaler. „Ich habe Trompete in einem Karnevalsverein gespielt. Schon damals habe ich mir gewünscht, eines Ta- ges Karnevalsprinz zu sein. Es geht darum, dem Volk zu dienen, Menschen glücklich zu machen, ihnen Freude zu schenken.“ Zurück ins Jetzt: Hier auf der Prunksitzung folgen Büttenreden auf den eröffnenden Gardetanz. Das Alter Ego des unvermeidlichen Bauchredners, ein Vogel Strauß, punktet bei den mehreren Tausend Jecken mit Anzüglichem und Fäkalem. Rassistisches bleibt unter den Ohren des Oberbürgermeisters die Ausnahme, die Kritik an Autoritäten auch.
FAST 250 AUFTRITTE HABEN MIKE I. UND BEA I. DAMALS ABSOLVIERT – OHNE ALKOHOL
Karneval ist kein Kindergeburtstag, die Pflicht ruft in den fast dreieinhalb Monaten Amtszeit ihrer Amtszeit, fast 250 Auftritte absolvieren Mike I. und Bea I. zu Beginn des Jahrtausends. „Ohne Alkohol, wir waren ja im Dienst,“ sagt der Mitbetreiber der Eckkneipe „Wiesenstübchen“ ernst. In den Tagen zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch sind die beiden rund um die Uhr unterwegs, sie sprechen mit den Menschen, schütteln Hände. „Altenheime zu besuchen fand ich besonders toll, die Senioren haben sich immer riesig gefreut.“ Mike Fierus ist drahtig, der Schnäuzer mittlerweile aus seinem hageren Gesicht verschwunden. Wenn der 40Jährige von seiner Regentschaft erzählt, leuchten seine großen Augen. Er genießt das Programm in dieser Nacht, klatscht, singt und lacht. Er ist jung geblieben. In diesen „fantastischen Tagen“ damals bildet das Prinzenpaar eine Art kommunale Gegenregierung, die kurze subversive Phase der Session bricht an, zumindest formal. Der Oberbürgermeister übergibt den beiden am Rosensonntag den Stadtschlüssel im Rathaus. Mike schiebt amüsiert hinter- her: „Bis Karnevalsdienstag hatten wir das Sagen.“ Und an Weiberfastnacht schneiden die Frauen nicht nur legal die Krawatten der städtischen Autoritäten ab, an diesem Tag führt die Prinzessin die Narren an. „Da musste ich dann das Zepter abgegeben. Gott sei Dank nicht länger!“ Mike lacht. Vorher und nachher bestimmen die Männer, natürlich. Schon im alten Babylon waren bei karnevalsähnlichen Festen Sklaven und Herren gleich. Befristet, versteht sich, es galt das freie Wort. Heute übernehmen Jecken die Regierungsgeschäfte, symbolisch, versteht sich.
EINE GRUPPENTHERAPIE ZUR VERARBEITUNG PREUSSISCHER MILITÄRVERGANGENHEIT?
Ist es heute noch wichtig, dass Bürger im Karneval unter dem Schutz der Narrenfreiheit die Obrigkeit kritisieren können, unbescholten? Mike überlegt. „Puh, das weiß ich gar nicht. Für mich ist es nicht wichtig, dass es politisch ist, nein.“ – „Oh, wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen, so schön, so schön!“ DerSaal gibt lautstark die akustische Unterstützung seiner Aussage. Gardetanz, Kommandanten und Adjutanten, der „Dank an das erstklassige musikalische Regiment!“ vom Podium im schneidenden Ton – Ausgelassenheit wird hier militärisch organisiert, diszipliniert durchgeführt. Veranstalterin der „Närrischen Stadthalle“ ist die Ka.-Ge. Colmar, eine Karnevalsgesellschaft von Berufssoldaten, die ihre Kaserne im Namen trägt. Sollte ich etwa einer unterbewussten Gruppentherapie beiwohnen, der kollektiven Verarbeitung preußischen Militarismus’, der ohne Zweifel bis heute subtil wirkt? Und dann ist da noch der Skandal, der keiner war damals. Als durchsickert, dass Mike I. und Bea I. das erste homosexuelle Prinzenpaar der Stadt sind, steht plötzlich ein Filmteam von Sat.1 auf der Matte. Die reißerische Reportage ist allerdings bis heute in einer Schublade verschwunden. Denn die notorisch störrischen Wuppertal verweigern dickköpfig den Skandal, sie wollen feiern mit ihren Regenten – und nicht über ihr Liebesleben diskutieren.
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