Eine Totenmesse, die nicht der Toten gedenkt, sondern die Leidtragenden selig preist, das ist Johannes Brahms 1866 mit „Ein Deutsches Requiem“ gelungen. Daraus ein meisterhaftes Ballett zu machen, das zudem auf klassische Posen und Formen verzichtet, das gelang jetzt Choreograf Martin Schläpfer in Düsseldorf.
Ein Ballett zu einer Trauermusik zu kreieren, das lässt selbst Tanz-Fans erstaunt aufhorchen.
Doch Martin Schläpfer, Ballettchef in Düsseldorf, ist erfahren im Umgang mit sakralen Themen und Kompositionen. Deshalb ist in seinem Ballett „Ein Deutsches Requiem“ keine Spur von romantischer Verklärung zu spüren. Vielmehr wirken die Tänzerinnen und Tänzer in allen Szenen wie Sinnsuchende – so wie der Choreograf selbst. Musikalisch feinfühlig sucht Schläpfer die Balance zwischen der Tiefgründigkeit der Musik und der fließenden Umsetzung der Musik in Bewegung. Trauer und Trost, Schwere und Leichtigkeit, Himmel und Erde gilt es zu versöhnen. Und so krümmen die Tänzer die Rücken, kriechen zusammengekauert über den Boden, tragen des Anderen Last mit, indem sie ihm wieder aufhelfen, ihn stützend führen oder tragen. Dann wieder springen die Frauen den Männern in die Arme, um dort mit seltsam verdrehten und abgeknickten Gliedmaßen wie im Leid zu erstarren. Wenn sie wieder abgesetzt werden, scheinen sie aus dieser menschlichen Geste neue Kräfte und Zuversicht zu schöpfen.
Der Zuschauer ist einem ständigen Auf und Ab der Gefühle ausgesetzt. Eben noch sprangen einige Tänzer auf das Stichwort „Freude“ in der Arie „Selig sind, die da Leid tragen“ mit ausgreifenden Schrittsprüngen in die Höhe, als wollten sie diese Freude dem Himmel entgegentragen: Zuversicht und Hoffnung. Dann zieht das ganze Ensemble, die Arme auf den Schultern des Vordermanns, Horden-gleich und schleppenden Schrittes dahin, bis alle kraftlos zu Boden gefallen sind: Last und Leid. So wird der Tanz zum gleichberechtigten Partner dieser mächtigen Musik, die ihn an keiner Stelle erdrückt. In Momenten innerer Sammlung lässt Schläpfer gar die vierzig Tänzerinnen und Tänzer sich mit dem Rücken zum Publikum niederlassen und minutenlang dem Chor lauschen, der auf einer Empore der Hinterbühne thront. Gemeinsam verleihen der Opernchor, die Sopranistin Sylivia Hamvasi, der Bass-Bariton Adrian Sampetrean und die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Axel Kober den Kompositionen von Brahms wirklich Klang und zeigen dort gemüthafte Tiefe, wo Emotion angesagt ist.
Barfuß und erdverbunden wird getanzt. Nur einmal hat die Tänzerin Marlúcia do Amaral einen einzelnen Spitzenschuh am Fuß. Humpelnd sucht sie mit übermäßiger Streckung des nackten Fußes den Abstand zur Erde auszugleichen. Das ist ein Bild mit starker Symbolkraft, ebenso wie das Duett von Yuko Kato und Jörg Weinöhl im zentralen vierten Satz des Requiems „Wie lieblich sind deine Wohnungen“. Versöhnlich steht sich das Paar gegenüber, ein halber Schritt bringt den anderen mal seitlich, mal vor, mal hinter den Partner, bis schließlich zum Schluss Yuko Kato von hinten ihre Arme auf seine seitlich gestreckten Arme legt und sie so schwebend wie auf einem Kreuz liegt. Es ist eine der ergreifendsten Szenen des Balletts, das ganz auf Pirouetten und klassische Posen verzichtet und von der kunstvollen Natürlichkeit der Bewegungen gestaltet wird. Die Bühne ist dabei in hoffnungsvolles Blau getaucht. Doch die Hoffnung trägt nicht bis zum Schluss. Das Stück endet mit einem zweifelnden Blick des Choreografen auf das Weltgeschehen. Leinen mit Haltegriffen fallen von der Decke, doch sie fallen zu tief, um sich daran aufzurichten. So strampeln und hangeln die Erdenwürmer knapp über dem eigenen Sumpf in der Hoffnung auf Erlösung.
Martin Schläpfers „Ein Deutsches Requiem“ zählt ganz sicher zu den besten Balletten der Spielzeit 2010/2011 in Deutschland.
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