Von 11 bis 23 Uhr ... 8 1/2 Stunden reine Spielzeit ... vier Pausen. Das ist mal eine Ansage, der man sich nach kurzem Zögern im Verbund mit einem Theaterkollegen und 600 weiteren Zuschauern dann doch sehr gerne hingab, und es hat sich gelohnt: Mit der Deutschlandpremiere von „2666“ nach dem Roman des chilenischen Autors Roberto Bolaño, in der Regie des 30-jährigen französischen Regie-Shootingstars Julien Gosselin, präsentierte das Schauspiel Köln am Osterwochenende ein mutiges Unterfangen und viel wichtiger – seit längerem mal wieder Theater auf internationalem Topniveau. Kein Wunder, dass da ein paar Sitze weiter der ehemalige Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann neben einem „marathonsitzt“. Klar geht man über die gesamten 12 Stunden mit seinen Mitstreitern im vollbesetzten Publikum durch Höhen und Tiefen der Erkenntnis, der Anteilnahme, der Müdigkeit oder des Abdriftens der Gedanken, und nicht jede dargebotene Szene oder Idee wird dem Prädikat „Regie-Wunderkind“ gerecht, aber insgesamt war der als „Das Oster-Event“ angekündigte Theaterkracher nicht zuletzt wegen der 13-köpfigen Riege an hervorragenden Schauspielern vermutlich *das* Theaterereignis des Jahres in Köln.
Eine Neuerfindung des Theaters hat während der Aufführung übrigens nicht stattgefunden: Ein bisschen Frank Castorfs Volksbühne hier, ein bisschen Katie-Mitchell-Multimedia-Gezaubere dort, aber das klingt zu negativ: Der Mut zur Größe, der kalkulierte Größenwahn, die virtuose Handhabung der eingesetzten Mittel und die formale Konsequenz im Zugriff auf den uferlosen Stoff mittels einer herausragenden Textfassung machen diesen Theaterabend – oder Theatertag – zu etwas ganz Besonderem im täglichen Theatereinerlei. Zwei Jahre Vorbereitungszeit stecken in „2666“, das Gosselin binnen fünf Wochen mit seiner Kompanie „Si vous pouviez lécher mon coeur“ auf die Bühne brachte. „Etwas Gewaltiges und Imposantes – unendlich, manchmal hart und voller Nervenkitzel“, habe er auf die Bühne bringen wollen, so Gosselin über sein Großprojekt. Dies ist ohne Zweifel geglückt.
Es war im Jahr 2013, als der damalig 25-Jährige im Rahmen des Theaterfestivals in Avignon mit seiner Bühnenadaption des Bestsellers „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq erstmals für Aufsehen sorgte. Mit Bolanos Stoff macht er einen 1000 Seiten starken Roman über die Abgründe und Untiefen unserer Modernen Welt fürs Theater spielbar, der nahezu alle zeitgenössischen „reinen“ Theaterstücke an Komplexität, Universalität und Zeitgenossenschaft überragt und trotzdem in seiner Rätselhaftigkeit durchweg unfassbar, nicht eingrenzbar, nicht kategorisierbar bleibt. Das ist faszinierend und ein großer Verdienst des jungen Gosselin. Für das Schauspiel war es ein finanzieller und logistischer Kraftakt, die internationale Großproduktion in der Interimsspielstätte im Mülheimer Depot zu präsentieren. Und so gebührt auch dem Kölner Intendanten Stefan Bachmann, der seit der Bekanntgabe seines Weggangs nach der Spielzeit 2020/21 nun befreit aufzudrehen scheint, unser Dank. Mut zahlt sich aus – diese Erkenntnis hätte man sich von ihm allerdings etwas früher gewünscht ... aber es bleiben ja noch 2 Jahre, auf die man sich so freuen kann.
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