Sonntag, 19. Februar: Ihr Körper ist über und über mit Narben bedeckt. Yolande aus Benin wurde von ihrem Mann mit Säure übergossen. Still zeigt sie Fotos, auf denen die offenen roten Wunden zu sehen sind. Auf einem früheren Bild strahlt sie als junge Frau. Vumilia und Joziana aus der Demokratischen Republik Kongo erzählen, wie sie von Rebellen vergewaltigt und in die Wälder verschleppt wurden. Heute leben sie als Ausgestoßene in der Wildnis. Minara aus Bangladesch wurde in zwei Ehen schwer misshandelt. Maya aus Deutschland wurde von ihrem Gatten jahrelang geschlagen, vergewaltigt und mit dem Tod bedroht. Still beobachtet die Kamera, wie die Protagonistinnen erzählen, ihnen dabei die Tränen herunter laufen. Einige stellen das Erlebte szenisch dar: Wie Soldaten in das Haus eindringen, sie zu Boden werfen, mit Messern verletzen, mit Stöcken vergewaltigen. Danach herrscht für einige Zeit Stille. Nur hin und wieder informiert der Off-Text: In Benin sind ein Fünftel aller Frauen beschnitten, werden ein Drittel der Mädchen zwangsverheiratet. In der DR Kongo ist die Hälfte der entführten Frauen verschollen. In Deutschland erlebt jede dritte Frau häusliche Gewalt. „Unter aller Augen“ ist bedrückend, schockierend, manchmal unerträglich bis zur Schmerzgrenze.
Wie geht sie mit all dem Leid um, wollen wir von Regisseurin Claudia Schmid wissen. „Natürlich haben mir die Gewaltgeschichten zugesetzt, vor allem nachts, wenn sie erneut vor meinen Augen erschienen. Da ich mit den Frauen viel Zeit verbracht habe, haben mich die Erzählungen getroffen. Auch die Bearbeitung der Interviews und der Schnitt waren anstrengend. Aber letztlich ist meine Belastung im Vergleich mit deren Leid geradezu lächerlich. Der Mut und die Kraft meiner Protagonistinnen haben mich beeindruckt und mir Energie und Hoffnung gegeben, weiterzumachen. Im Lauf der Arbeit haben sich die Frauen derart verändert, dass ich es kaum glauben konnte“, erklärt sie. Die Meldungen aus dem Publikum nach der Weltpremiere sind spürbar beeindruckt, bewegt, dankbar. Schmid hat den Film selbst gedreht. „Ich halte das Equipment so klein wie möglich, um das Vertrauen der Frauen zu gewinnen und direkter mit ihnen verbunden zu sein. Die Kameraarbeit gibt mir Halt und erhöht Intensität und Intimität. Die Frauen vertrauen mir. Sie wissen, dass ich die Produktion von A bis Z betreue.“ Schmid erzählt, dass sie monatelang recherchiert und unter ärmlichsten Umständen gelebt habe. Es sei schwer gewesen, die passenden Frauen zu finden. Sie ist sich der Gefahr ihrer Arbeit bewusst – für die Protagonistinnen und sich selbst.
Im anschließenden Podiumsgespräch unter Moderation der Journalistin Chantal Louis werden verschiedene Aspekte der weltweiten Gewalt gegen Frauen thematisiert. Sandra Bulling, Medienkoordinatorin bei CARE, berichtet, dass die Hilfsorganisation Kredite vergebe, Gesundheitsförderung und gesellschaftliche Aufklärung betreibe. So habe Minara aus Bangladesch eine Hebammenausbildung bekommen, arbeite heute in einer Schule und leite eine Sportgruppe für Mädchen – in einem Land, wo Sport für Frauen verboten ist. Eva-Maria Hertkens von Missio informiert über Traumazentren im Kongo. Die von Rebellen vergewaltigten Frauen sind gesellschaftlich stigmatisiert, die so entstandenen Kinder werden geächtet, verleugnet und nicht registriert. Eine Sozialarbeiterin macht den Frauen Mut und gibt ihnen Einkommenstipps. Heute haben alle Handys, um im Notfall Hilfe herbeirufen zu können.
Kerstin Zander betreut die Internetplattform „re-empowerment!“, wo sich Frauen austauschen, die von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind. Zander schildert die Spirale: „Es beginnt als große Liebe. Dann erfolgen Mikroangriffe, um die Frau in ihrem Selbst zu verunsichern. Ein Machtungleichgewicht entsteht. Der Frau wird vermittelt, sie sei schuld, nicht in Ordnung. Auf psychische folgt physische Gewalt.“ Die Psychologin Judith Steinbeck führt aus: „Die Amerikaner nennen es ‚Gaslight-Syndrom‘, nach dem Film ‚Gaslight‘, in dem der Mann seine Gattin langsam in den Wahnsinn treibt. Das Selbst der Frau wird zerstört. Oft setzt sich das auf eine frühkindliche Traumatisierung, wo Frauen Schlimmes erlebt haben, drauf.“ Ihre Bemerkung, dass auch in Deutschland Patriarchat herrsche, findet den Applaus des Publikums. Einig sind sich die Rednerinnen, dass Bildung der Schlüssel für ein besseres Leben ist. Und es wichtig sei, Traumata aufzuarbeiten. „Unter aller Augen“ bietet bei allem Leid auch Lichtblicke: Die Protagonistinnen können heute wieder lachen, leben ein neues Leben. Und Claudia Schmid hat schon Pläne für die nächsten Filme, die sie drehen will.
„Unter aller Augen“ läuft ab 9. März in den Kinos.
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