Der ehemalige Direktor der Berlinale, Dieter Kosslick, hat seine Autobiografie „Immer auf dem Teppich bleiben. Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos“ veröffentlicht. Darin redet er unter anderem über seine 18 Jahre als Leiter der Berlinale und über die Vergangenheit, aber auch die Zukunft des Kinos.
choices: Herr Kosslick, in normalen Zeiten würden wir uns jetzt alle auf zur Berlinale machen, die in diesem Jahr jedoch erst im März nur Online für die Branche und dann im Sommer für das Publikum stattfindet.
Dieter Kosslick: Das stimmt: Der Februar kommt, und wenn die Krokusse aus den Wiesen kommen, dann weiß man normalerweise, jetzt kommt die Berlinale ... Immerhin gibt es jetzt schon mal ein Buch zur Berlinale, und die Jury zum Buch ist auch da! Fünf aus der aktuellen Jury kenne ich ja gut aus meiner Zeit. [Die diesjährige Online-Jury setzt sich aus ehemaligen Gewinnern des Goldenen Bären zusammen, fünf davon aus der Zeit von Kosslicks Leitung des Festivals. – Red.] Ich drücke der Leitung auf jeden Fall die Daumen, dass das gut funktioniert, im März die Online-Präsentation und dann im Sommer das Festival für das Publikum. Ich finde es gut, dass sie was machen und das Festival nicht einfach auf das nächste Jahr verschieben, denn das wäre wirklich schade.
Haben Sie im vergangenen Jahr nicht öfter gedacht: „Das war der richtige Moment, um aufzuhören?“
Von der Pandemie wusste ich natürlich damals nichts, und es wäre natürlich eine Herausforderung gewesen, der ich mich gestellt hätte, auch wenn ich natürlich nicht weiß, was ich da gemacht hätte. Natürlich bin ich froh, dass ich diesen Ärger nicht durchmachen muss – so ist das ja nicht der schönste Job der Welt.
Sie haben sich schon vor der Pandemie an ihren Schreibtisch zurückgezogen und ihre Autobiografie geschrieben. Da spielen die 18 Berlinale-Ausgaben, für die sie als Direktor verantwortlich sind, natürlich eine große Rolle. Wie haben Sie die vielen Ereignisse vor und hinter dem Vorhang, auf und neben dem Roten Teppich erinnert, sortiert und in den Griff bekommen?
Den ersten Teil habe ich erstmal aufs Band gesprochen, dann chronologisch über meine Stationen, von der Kindheit in Baden-Württemberg mit den Bahnhofs-Lichtspielen über die Studienzeit in München, dann die Filmförderung in Hamburg und die Filmstiftung in Düsseldorf bis zur Berlinale entlang gehangelt. Ich kann mich generell ziemlich gut erinnern, aber es gibt natürlich auch sehr viel Material in den Archiven. Es war ein Leben voller Initiativen! Die Filmförderungen hatten sich Anfang der 80er Jahre gerade etabliert, da war alles neu: in Hamburg die neue selbstverwaltete Filmförderung, die mit dem Filmbüro in Mülheim parallel auch in NRW entstand. In Hamburg haben wir dann 1986 das Festival Europäisches Low Budget Film Forum [mit Gästen wie Pedro Almodóvar, Lars von Trier, Derek Jarman – Red.] gegründet und kurz darauf mit dem European Film Distribution Office ein europäisches Filmbüro zur Filmvertriebsförderung [Dieter Kosslick wurde 1988 zum ersten Präsidenten des EFDO gewählt – Red.], aus dem dann das MEDIA Programm der Europäischen Union wurde, heute Creative Europe MEDIA. Und dann kam natürlich die ganz große Nummer mit der Filmstiftung NRW und der ersten Broschüre: „Schauen sie mal Rhein – Mit guten Filmen Arbeitsplätze schaffen“. Das war alles neu, da war Aufbruchsstimmung! Es gab auch Kritik daran, dass mit dem WDR ein Fernsehsender mit 50 Prozent daran beteiligt war. Auf der Pressekonferenz habe ich im Scherz gesagt, dass wir die einzige Filmförderung mit einem eigenen Sender sind – das fand Herr Nowotny, damaliger Intendant des WDR, damals wohl nicht so lustig ... Mit der Filmförderung NRW haben wir ab 1991 ein breites Spektrum abgedeckt: Kinoförderung mit den Jahresprogrammprämien, eine Multiplex-Studie und generell eine Studie über die Leinwände in NRW. Dann das waghalsige Experiment der städtebaulichen Initiative, um wieder besser ins Kino zu kommen. Wenn man zum Beispiel mit dem Zug in Oberhausen gelandet ist, musste man erst an der Polizei, dann am Gefängnis und dann am Finanzamt vorbei. Wir wollten die ganze Wegführung hin zum Kino ändern … Und natürlich all die geförderten Filme, angefangen von „Das Baby von Mâcon“ von Peter Greenaway, der in der Eissporthalle in Troisdorf bei Köln gedreht wurde, bis zum oscarnominierten „Farinelli“ von Gérard Corbiau.
„Jetzt hat die Pandemie das Festival kleiner gemacht, das ist wirklich schade“
Auch als sie zehn Jahre später die Leitung der Berlinale übernommen haben, hatten sie gleich viel vor. Und haben direkt geahnt, dass sie wie ihr Vorgänger Moritz de Hadeln schnell in der Kritik stehen könnten. Tatsächlich haben sie viel Lob, aber auch Kritik geerntet. Wie gehen sie damit um?
Klar, da regt man sich drüber auf! Aber ob da einer sagt, dass ich keine Ahnung vom Film habe oder andere persönliche Dinge kritisiert – das muss man wegstecken. Aber richtig aufgeregt habe ich mich darüber, dass es immer hieß, die Berlinale muss kleiner werden. Da dachte ich, wir sind im falschen Film! Dass man Leute davon abhalten will, ins Kino zu gehen, wo wir alle – und das ist doch auch der Geschäftsbereich der Filmjournalisten und -kritiker, die Menschen ins Kino zu bringen wollen! Die Berlinale ist das einzige Festival der Welt, das seit seiner Gründung 1951 das Publikum in seiner DNA hat. Die ersten sechs Jahre war es ja noch ein reines Publikumsfestival, da wurden sogar die Preise vom Publikum vergeben. Natürlich ist das Festival immer größer geworden, wir haben ja auch immer mehr Zuschauer gehabt. Aber das ist doch toll! Darüber haben wir uns auch finanziert, wir hatten über drei Millionen Euro Einnahmen. Ich habe die Kritik nie verstanden und immer dagegengehalten. Jetzt hat die Pandemie das Festival kleiner gemacht, das ist wirklich schade.
„Ich schlage einen Paradigmenwechsel bei der Filmförderung vor“
Auf ihr Engagement gehen auch die vielen Initiativen zurück, die man unter dem Begriff ‚ökologische Nachhaltigkeit‘ zusammenfassen könnte.
Dass wir das Thema ab 2010 nochmal neu diskutiert haben, war ein Wendepunkt. Als die koreanische Künstlerin Christina Kim den Vorhang am Brandenburger Tor für die Vorführung der neuen Fassung von „Metropolis“ aus alten Berlinale-Outdoor-Plakaten recycled hat, lief das Thema auf der Berlinale neu an. Ab da war es unser Konzept, ökologisch und nachhaltig zu sein. Unsere Sponsoren haben das mit uns geteilt. Aber das hängt mit meiner Geschichte zusammen. Ich habe schon Anfang der 80er Jahre in der Zeitschrift „Konkret“ die ersten Öko-Tipps geschrieben. Mit diesen Themen hatte ich mich schon lange beschäftigt. Das ist dann langsam ins Festival eingeflossen, bis hin zu dem Punkt, dass wir nur noch vegetarisches Essen serviert haben. Später hatten wir dann eine eigene Arbeitsgruppe zu dem Thema, haben zum Beispiel das ‚Kiez-Kino‘ klimaneutral gemacht, Pressefächer mit Unmengen an Papier abgeschafft, hatten Ökostrom, einen nachhaltigen Wassersponsor, am Ende war ja sogar der Rote Teppich ‚grün‘. Schon 2013 habe ich im Magazin „Green Film Shooting“ von Birgit Heidsiek gesagt, dass solche Umweltkriterien auch in die Richtlinien einer Filmförderung müssten… denn freiwillig macht das niemand. Das hat allerdings nicht ganz gestimmt, denn seit einigen Jahren gibt es mehrere grüne Ansätze in der Filmpolitik, zum Beispiel Birgit Heidsieks Handbuch der Filmförderungsanstalt über grüne Kinos oder „changemakers.film“, die Selbstverpflichtung des Produzentenverbands zu nachhaltiger Filmproduktion. Langsam stellt man auch fest, dass das alles zusammenhängt. Zum Beispiel führt der Förderregionalismus dazu, dass man unglaublich viel herumfährt, wenn man an fünf verschiedenen Stellen seine Fördergelder bekommt [weil man die Fördergelder in all den Bundesländern, in denen man gefördert wird, auch investieren muss – Red.]. Ich schlage daher einen Paradigmenwechsel bei der Filmförderung vor. So, wie wir bezüglich des Wirtschaftseffekts vor 30 Jahren gesagt haben, dass 150 Prozent der Förderung investiert werden muss, müsste man jetzt für einen Nachhaltigkeitseffekt belohnt werden. Im aktuellen Kabinettsbeschluss für das neue Filmfördergesetz steht jetzt schon, dass die Kriterien ab 2022 grüner gemacht werden. Wie soll das auch anders gehen, wenn 2050 Klimaneutralität in Europa herrschen soll? Das betrifft ja nicht nur den Film, sondern die ganze Kunst beziehungsweise alle Bereiche.
„Wenn man das Kino retten will, dann braucht man den Nachwuchs“
Mit dem Thema der Nachhaltigkeit sind wir dann schnell beim Thema „Zukunft des Kinos“ angelangt, das sie auch sehr beschäftigt.
Das Kino muss sich nicht grundlegend ändern, aber einige neue Argumente für sich haben. Wie gesagt: Bei der Filmförderung müsste es als Prinzip statt eines Wirtschaftseffektes einen Nachhaltigkeitseffekt geben. Für die Filmfestivals gilt: Man kann nicht immer durch die halbe Welt fliegen und tausende Menschen hin und her bewegen. Das wird in den nächsten Jahren sowieso nicht mehr in der Form möglich sein, dann kann man sich auch gleich ein neues Konzept überlegen. Und zu den Kinos: Es gibt ja schon grüne Kinos, da geht es um ökologische Bauweisen und Energieeinsparung. Aber da muss es auch um weitreichendere Konzepte gehen: Wenn man das Kino retten will, dann braucht man den Nachwuchs. Das sage ich auch als Vater. Damit sich die Kids nicht nur Blockbuster auf dem kleinen Bildschirm ansehen, schlage ich vor, dass die Schulen mit dem Kinoverband einen Deal machen, dass die Kinder einmal die Woche ins Kino gehen, um Film in dem großen, architektonischen Raum Kino zu erleben. Das wäre eine Sozialisationsmaßnahme, weil es wichtig ist, den Kindern das Kino auf der großen Leinwand zu zeigen. Ich habe nichts generell gegen die Bildschirme. Es gibt ja inzwischen auch hybride Festivals und es hat auch Vorteile, wenn man zeitlich und ortsungebunden über die Filme verfügen kann und das sogar in der Provinz funktioniert – auf dieser Idee basiert ja der ursprüngliche Erfolg von Netflix. Durch die Verkürzung der Auswertungsfenster, das heißt wie lange ein Film exklusiv im Kino gezeigt werden kann, müssen sich die Anbieter aber in einer Partnerschaft einigen. Da wäre das Kino gefordert, neue Konzepte zu machen und die sehe ich vor allem im Bereich der Jugendlichen. – Nach der Pandemie wird es einen Konkurrenzkampf um die Subventionen geben. Darauf muss man sich vorbereiten. Ich mache in dem Buch einige Vorschläge, wie man mit den Themen Nachwuchs und Nachhaltigkeit eine höhere gesellschaftliche Legitimation erreichen kann. Darum heißt ein Kapitel in meinem Buch: Mit Greta ins Kino gehen!
Dieter Kosslick: Immer auf dem Teppich bleiben. Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos | Hoffmann und Campe | 336 S. | 25 €
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