Nach zwei Stunden Vorstellung öffnen sich die Türen, das Publikum strömt aus dem Saal, und überall sieht man ein Lächeln auf den Gesichtern. Wie oft kann man diese Beobachtung nach einer Tanzinszenierung machen? Immer wieder ist es faszinierend zu sehen, wie sehr sich Menschen von dem berührt fühlen, was sie da gerade in einer kunstvollen Kommunikation der Körper auf der Bühne gesehen haben. Aber sobald dann das Gespräch über das Erlebte einsetzt, schwinden die Worte, und wir spüren, wie schwierig es ist, das Gesehene in Worte zu fassen.
Das Wesentliche scheint uns trotz aller Begeisterung zu entgleiten. Vor der Realität des Tanzes erweisen sich die Instrumente unserer verbalen Verständigung als stumpf und hilflos, ein Umstand, den man nach jeder Premiere wieder neu beobachten und vor allem hören kann. Wie leicht ist es, über einen Film oder ein Theaterstück zu sprechen, aber was sich da gerade zwischen den Tänzern und Tänzerinnen abgespielt hat, das lässt sich nur schwerlich mitteilen. In der Story erschöpft sich eine Choreographie eben nicht. Entscheidend ist, wie sie dargestellt wird, und viele Inszenierungen bedienen sich heutzutage gar keiner erzählenden Struktur mehr. Es geht ja auch um mehr als die perfekte gymnastische Ausführung einer Bewegung. Und doch ist bis in die letzte Zuschauerreihe niemandem die Erotik entgangen, die eine Truppe wie das italienische Aterballetto oder die internationale Tanzfamilie eines Wim Vandekeybus zu entfachen verstehen. Wir erleben die Bedeutung, die in diesen komplexen Bewegungskompositionen zum Ausdruck kommt, wir verstehen das gestische Vokabular, fühlen uns von ihm erregt oder betroffen.
Ein anderes Wissen ist hier am Werk, eines, das wir schon immer besitzen, und das mit der Entdeckung der Spiegelneuronen vor gut zehn Jahren von Seiten der Neurologen auch seine wissenschaftliche Bestätigung erhalten hat. Spiegelneuronen sind Gehirnzellen, die es uns ermöglichen, allein durch die Beobachtung der Bewegungen eines anderen Menschen auf dessen innere Motive zu schließen. Wir verstehen mit ihrer Hilfe die Bedeutung von Bewegungen, ein unmittelbares Wissen, das sich nicht so ohne weiteres in Sprache übersetzen lässt, aber eine tiefgreifende Erfahrung unseres Menschseins darstellt.
Im Tanz begegnen wir dieser Erfahrung auf eine Weise, wie sie in der Literatur, im Bild, in den digitalen Medien und selbst in der Musik in dieser konkreten Intensität nicht möglich ist. Vielleicht liegt in ihrer Fragilität auch einer der Gründe für die zögerliche Unterstützung, mit der in den Büros der deutschen Kulturpolitiker der Tanz gefördert wird. Man muss erlebt haben, was sich in Aufführungen von Anna Teresa De Keersmaeker – deren Arbeiten in diesem Herbst wieder auf PACT Zollverein in Essen zu sehen sind – dieses Wunder des Tanzes ereignet, wie in der Bewegung plötzlich Verständigung, Wiedererkennen, Erotik und Herausforderung miteinander verschmelzen. Tanz sensibilisiert für eine andere, unmittelbare Kommunikation, die sich zwischen den Körpern ereignet, verborgen vor der Aufmerksamkeit der Worte, aber gleichwohl bereichernd und verständlich.
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