In New York schritt 1965 die Polizei ein, als Anna Halprin ihre Choreographie „Parades & Changes“ vorstellte. Nackte Männer und Frauen waren auf der Bühne zu sehen. Heute bringen die Leute zu den Aufführungen ihre Vorschulkinder mit. Auch wenn das Museum Ludwig in Köln, wo die Rekonstruktion des Stücks jetzt noch einmal in Teilen gezeigt wurde, Warnschilder für Besucher mit dem Hinweis aufstellte, dass „Moralvorstellungen“ möglicherweise verletzt werden könnten, so sind Nackte auf der Bühne heute keine Seltenheit mehr. Oder aber es folgt – wie im letzten Jahr beim Festival Theaterzwang geschehen – nach der obligaten Aufforderung, während der Vorstellung die Handys auszuschalten, auch der Hinweis: „Sie werden heute Abend keine Nackten sehen“.
Und dennoch ist Nacktheit auf der Bühne ein Schock, nicht nur wenn sich, wie in Doris Uhlichs Choreographie „UND“, ältere Menschen ihrer Kleider entledigen, womit gleich zwei Tabus attackiert wären. Mit einem entblößten Menschen in einem Raum zu sein, ist nicht einfach. Von wegen Voyeurismus, die Zuschauer wissen plötzlich nicht mehr, wohin sie schauen sollen, „und raus zu gehen traut sich eh keiner, das wäre ja noch peinlicher“, erklärt Silke Z., die in ihrer mit dem Kölner Tanzpreis ausgezeichneten Produktion „private spaces“ Hauptdarstellerin Caroline Simon aus nächster Nähe entblößt. Woher nehmen die Tänzer ihre Sicherheit, wenn sie mit auftrumpfendem Blick, wie etwa bei Anna Halprin, den Blickkontakt mit dem Publikum suchen, während BH und Unterhose auf dem Parkett landen? Sie sind bekleidet durch die Rolle, in die sie schlüpfen. „Sich in der Umkleidekabine auszuziehen ist manchmal schwieriger als auf der Bühne“, gesteht Silke Z. Sie weiß als erfahrene Choreographin, dass die sinnlose Inflation nackter Haut lächerlich wirkt. Die Motivation für den Akt der Entblößung muss schon stimmen. Denn Nackte verströmen ebenso wie Kinder oder Tiere auf der Bühne eine derartig geballte Ladung Realität, dass jede Fiktion damit gesprengt werden kann. Was interessiert uns noch eine Geschichte, wenn die Konfrontation mit der Realität so viel mehr Vitalität entfesselt und dabei doch keineswegs angenehm ist?
Die Intensität des Lebendigen zu spüren, das ist – wenn es gelingt – eben auch das große Geschenk an das Publikum. Man braucht nur auf den Applaus nach Stücken wie „private spaces“ oder „UND“ zu hören, dann wird sogleich klar, wie tief sich die Menschen von dem berührt fühlen, was die Tänzer für sie riskiert haben. Solche Momente vergisst man nicht.
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