Nicht nur Romanciers müssen gut erzählen können. Auch unter Wissenschaftlern gibt es begabte Erzähler, deren Bücher man nur ungern aus der Hand legt. Oftmals sind es ja gerade die Sachbücher, die man nach Jahren noch hervorholt, während selbst die besten Romane nur selten wieder aus dem Regal genommen werden. Der Sachbuchmarkt ist in diesem Frühjahr mit einer Fülle von Publikationen bestückt, die Wissenschaft als ein Metier offerieren, das neben satten Erkenntnissen auch eine süffige Erzähldimension besitzen kann.
Obwohl die Sujets unterschiedlich sind, spiegelt sich unter der Hand mancher Autoren doch auf raffinierte Weise unsere Gegenwart wider. So platzt etwa in die Diskussion um Schönheitsoperationen, Diäten, Mannequins und sexuelle Orientierung ein wunderbar zu lesender Essay der Spanierin Carmen Sánchez, der auch in zahlreichen Abbildungen zeigt, woher unser idealisiertes Körperbild stammt. Und dabei räumt die Spanierin mit vielen Klischeevorstellungen von der antiken Alltagswelt auf. Der Titel „Kunst und Erotik in der Antike“ klingt eher fad, aber die Schilderungen von häuslichem Leben und dem Straßenbild im antiken Griechenland, in dem Nacktheit ein Teil des öffentlichen Lebens darstellte, gelingen Sánchez mit großer Meisterschaft. Die Spanierin gibt eine konkrete Vorstellung von der Beziehung der Geschlechter und zeigt, dass schon die Männer der Antike heftig von ihrer Angst vor dem weiblichen Körper geplagt wurden.
Wir spiegeln uns in den Mythen historischer Epochen und erfahren auf diese Weise etwas über unsere eigene Realität. Wir lernen zu verstehen, warum diese Realität so geworden ist, wie sie ist. Vor allem jedoch spiegeln wir uns in den Blicken der anderen Menschen. Denken und Fühlen entwickeln sich über der Begegnung mit den anderen, erst durch diese Erfahrung entsteht Persönlichkeit. Wolfgang Prinz gibt in seinem faszinierenden Buch „Selbst im Spiegel“ eine Vorstellung von jenem Prozess, mit dem wir das Innenleben unserer Mitmenschen erforschen. Nur über sie bekommen wir uns selbst in den Blick. Prinz zeigt, wie die Beobachtung zu einem lebenslangen Prozess wird und die Empathie das Gerüst darstellt, aus dem sich die Kultur speist.
Spannend ist sie zu lesen, diese Welterklärung von Wolfgang Prinz, die sich aus einem Dialog von Philosophie und Psychologie entfaltet. Über dem Spiegel der Andersartigkeit bekommen wir uns zu Gesicht. Dieses Andere ist die Natur zu allen Zeiten für den Menschen gewesen, über der Begegnung mit ihr, haben die Menschen sich selbst verstehen gelernt. Jürgen Goldstein nahm sich dramatische Naturbeschreibungen vor, in denen die Konfrontation mit der Wildnis die Autoren veränderte. „Die Entdeckung der Natur“ nennt er dieses Werk, das man an jeder Stelle aufschlagen kann, und doch wird man stets von der Kraft dieser Texte in einen Sog gezogen. Goldstein steigt direkt in die Berichte von Naturerlebnissen ein, wie sie von Kolumbus über Humboldt, Darwin, Nansen bis hin zu Reinhold Messner vorliegen. So hört man die Stimme des Originals, und Goldstein führt dazu nahtlos in die Lebensgeschichte der Autoren und ihrer Zeit ein. Über den äußeren Widerständen in Dschungel, Gletscherlandschaften oder Meereswüsten führt der Weg direkt nach innen, zu den Gesteinsformationen, die das Gefühlsleben prägen. Sachbücher, die so klug entwickelt und umsichtig geschrieben sind, besitzen alle Voraussetzungen, um der Belletristik an der Ladenkasse die Leser streitig zu machen.
Carmen Sánchez: Kunst & Erotik in der Antike. Deutsch von Anja Lutter und Katharina Uhlig. Wagenbach, 166 S., 16,90 €
Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Deutsch von Jürgen Schröder. Suhrkamp, 502 S., 39,95 €
Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Matthes & Seitz, 310 S., 38 €
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