Wie leicht sich doch die Romane von Rachel Cusk lesen. Ihre Handlung scheint sich in nicht mehr als einem Rinnsal aus ein paar Fakten zu entwickeln. War es in „Outline“ eine Schriftstellerin, die nach Athen reiste, begegnen wir in „Transit“ einer Schriftstellerin, die sich gerade ein desolates Haus in London gekauft hat. Faye heißt sie und in „Kudos“, dem dritten Teil dieses jeweils in sich geschlossenen Zyklus, ist es wieder Faye, die wir während ihres Aufenthalts auf einem Schriftstellerkongress begleiten. Tatsächlich war die Kanadierin schon Gast der lit.Cologne und die Eröffnung des Romans beschreibt sie wie einen Besuch in Köln. Später wechselt das Geschehen in eine urbane Topographie, die sich in einem namenlosen südamerikanischen Land zu befinden scheint.
Wieder erfahren wir fast nichts über ihre Protagonistin, dafür umso mehr über die Menschen, die ihr begegnen. Sei es der berühmte Kollege, der sich angesichts seines märchenhaften Reichtums nur noch um seine Gesundheit kümmert, oder der junge Reiseführer, der ihr aus der Untersicht des Teenagers seine Lebenserfahrungen mitteilt. Fliegende Wechsel vollziehen sich von einer Begegnung zur nächsten. Wobei in „Kudos“ mit Autorinnen, Übersetzerinnen oder Lektorinnen auffallend viele Frauen von ihrem Leben erzählen und das zumeist mit einem bitteren Unterton. Fatalistisch und zunehmend resigniert richten sie sich in einer Gesellschaft ein, in der die Männer sie unterdrücken oder als geschiedene Partner subtil tyrannisieren. Der Humor des vorhergehenden Bandes „Transit“ wandelt sich nun in verdüsterte, giftige Bilanzen über das Leben in unserer Epoche der Zeitenwende.
Das liest sich wie angeregte Konversation, aber was so scheinbar oberflächlich daher kommt, klingt nach. Zumal die Erzählerin nur referiert – der Wahrheitsgehalt der Geschichten bleibt offen. Ob die Frau, die ihren Sohn an einen Ehemann zu verlieren droht, der ein notorischer Lügner ist, bleibt dahingestellt. Stimmt es, dass die Mütter auch im Alter noch ihre Töchter mit unbarmherziger Strenge behandeln, während sie den Söhnen alles durchgehen lassen? Rachel Cusk lässt uns alleine mit dem, was sie uns erzählt, so öffnet sie ihre Prosa. Ein prickelndes Leseerlebnis, auch deshalb, weil die Geschichten stets einen doppelten Boden besitzen. Alles könnte auch anders sein. Sympathie und Antipathie vergeben wir schnell, aber mitunter täuscht man sich. Die psychologische Finesse dieser Prosa vermag immer wieder zu begeistern.
Einmal sagt jemand: „Was ist Geschichte, wenn nicht Erinnerung ohne Schmerz?“ Offenbar haben wir alle das Bedürfnis, unser Leben zu einer Geschichte zu montieren, die leicht erzählbar ist, aber grundsätzlich aus einem anderen Stoff als die Realität bleiben wird. Rachel Cusk hält uns den Spiegel vor, zieht sich zurück auf den Status eines Mediums, das uns die Stimmen der Menschen präsentiert. Süchtig macht sie uns mit dieser listigen, klugen dahinplätschernden Prosa, in der sich das Tiefsinnige gleich unter der Oberfläche zu verstecken weiß.
Rachel Cusk: Kudos | A. d. Engl. v. Eva Bonné | Suhrkamp | 216 S. | 20 €
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