Was ist wohl die größte politische Demonstration im Jahr in Köln? Die Kundgebungen am Tag der Arbeit? Nein, falsch. Kleiner Tipp, sie hat auch mit Emanzipation zu tun. Es handelt sich um die Parade des Christopher Street Day, der in diesem Jahr in Köln am 6. Juli stattfindet. In den letzten Jahren zwar immer wieder als „rosa Karneval“ verspottet, kritisiert und durch diverse Fetisch-Teilnehmer mit Peitsche und Menschen an Hundeleinen im Image ramponiert, versuchen die Veranstalter in diesem Jahr die Kundgebung zu repolitisieren.
Das ist auch dringend notwendig, bei der sich beständig breiter machenden Homophobie im Land. Gegen einen wertneutralen Sexualunterricht an Schulen laufen in Baden-Württemberg nicht nur stramm Konservative oder fundamentale Christen Sturm. Nein, mit der Homophobie ist es wie mit dem Rassismus: beide fühlen sich in der Mitte der Gesellschaft wohl. Letzterer muss in der Mitte nicht mit dem Springerstiefel stampfen und ersterer gehört fast schon zum guten Ton. Das Wort „schwul“ ist eine verbale Allzweckwaffe vom Schulhof bis zum Fußballplatz, von der Theke bis zur Talkshow und Kommentaren. Besonders dort tarnt sich Homophobie unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit: „Das wird man doch noch sagen dürfen…“
Ein Beispiel ist der Publizist und Journalist Matthias Matussek, der in einem Kommentar zu einer Maischberger-Sendung für die Zeitung „Die Welt“ behauptete, alle nicht-heterosexuellen Lebensmodelle seien Formen „defizitärer Liebe“. Ausgerechnet Matussek schüttet das Kind mit dem Bade aus, weil er „Liebe“ mit „Kinder kriegen“ gleichsetzt und verwechselt. Was ist mit all den Hetero-Paaren, die keine Kinder bekommen können oder wollen? Defizitäre Liebe? Oder andersherum gefragt: Wie viele Kinder wurden durch Vergewaltigungen gezeugt? Die Verhöhnung von Vergewaltigungsopfern, ist ein Kollateralschaden den er billigend in Kauf nimmt, um nicht-heterosexuelle Lebensformen zu diskriminieren. Die Räder, die Matussek im Namen eines überlebten Konservatismus zurückdrehen will, sind kaum zu zählen. Fröhlich provozierend, versucht er mit fundamentalistischem Unsinn einen Konservatismus zu verteidigen, der seine eigene Überlebtheit mit – angeblich – christlichen Werten camoufliert. Verjüngungskur durch Rock’n'Rollback, sozusagen. Und das Alles nur, um sich und den Seinen zu versichern: Ein Kind braucht eine Mutter und einen Vater – Basta!
So traurig es ist, aber genau hier verläuft die Front in der öffentlichen Diskussion. Klischees werden reproduziert und christliche Werte, die sonst niemanden mehr hinterm Ofen hervorholen, formieren eine konservative Bewegung, die sich queeren Menschen an einem kritischen Punkt entgegenstellt: „Bei den Kindern hört der Spaß auf“, dröhnt es aus den Reihen besorgter Mittelschichtseltern, die ansonsten durchaus tolerant sein können. Der aufgeklärte Homophobe führt „fehlende Langzeitstudien“ an, und verleiht dem Adoptionsverbot für Homo-Paare einen quasiwissenschaftlichen Segen. Ja, man muss nicht unbedingt die Bibel wörtlich verstanden wissen, um Schwule zu hassen. Was aber Gleichberechtigung im Bereich der Bildung institutionalisieren könnte – ein weniger heterosexistischer Schulunterricht –, wird als „Gender-Ideologie“ und „Frühsexualisierung“ diffamiert. Als sei sexuelle Orientierung wahlweise eine Frage der Erziehung und ihre Thematisierung im Unterricht Propaganda.
Das Gefährliche daran ist, dass es nicht vereinzelt geschieht, sondern grenzübergreifend. Im Februar diesen Jahres zeigte die „Manif à tous“ – die „Demonstration für alle“ – in Paris mit 100.000 Teilnehmern gegen „die Ehe für alle“ deutlich, wie stark die Ablehnung gegen schwule oder lesbische Lebensmodelle mit und ohne Trauschein, mit und ohne Kind in Frankreich ist. Im April demonstrierten in Stuttgart wesentlich weniger Menschen. Ihr Protest lehnte sich aber an die „Manif à tous“ an. Hüben wie drüben wurde allen Formen der Sexualität, die nicht „normal“, oder gar „unnatürlich“ sind, die Feindschaft erklärt oder sie wurden pathologisiert. Die Heftigkeit der Proteste ist indes erstaunlich. Den Protestierern wird ja direkt nichts genommen. Sie verlieren ein Privileg: Das Privileg alleine Kinder großziehen und erziehen zu dürfen. Allein die Angst davor löst homophobe Gegenwehr aus. Die Horrorszenarien können dabei nicht dramatisch genug sein: Die Gesellschaft wird überaltern; Moral und Werte gehen verloren; bald wird man uns zur künstlichen Befruchtung zwingen usw. Das ist alles so alt, wie es unsinnig ist.
Schließlich kläglich wird es, wenn es heißt: „Kinder sollten nicht über sexuelle Vielfalt unterrichtet werden, solange sie es nicht von sich aus ansprechen.“ Niemand würde so etwas über Mathematik, Verkehrsregeln, Mobbing oder Rechtschreibung behaupten. Ganz davon abgesehen, dass Kinder derzeit permanent ungefragt mit der heterosexuellen Norm konfrontiert werden.
Aktiv im Thema
anyway-koeln.de
www.rubicon-koeln.de
www.schlau-nrw.de
www.profamilia.de
www.buendnis.lsvd.de
www.schule-der-vielfalt.de
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema im Themenbereich:
und unter:
www.trailer-ruhr.de/thema + www.engels-kultur.de/thema
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nicht länger unsichtbar
„Before Stonewall“ in der Filmpalette – Foyer 07/19
„Was wollen wir für eine Sexualität haben?“
Hermann Mueller und Anna Tenti über Britney X – Festival 07/19
„Eine bunte Mischung aus Originals und Covern“
Nachwuchsband Gin Red beim Christopher Street Day – Interview 07/19
Fünfzig Jahre Emanzipation
Cologne Pride und Christopher Street Day – Spezial 07/19
Blind Sex-Date
Mittendrin: Angstraum Köln beim Impulse Theaterfestival – Spezial 06/19
Entschwulender Hokuspokus
Coming-out in der Spießerstadt: Garrard Conley liest aus „Boy Erased“ – Literatur 06/18
Die Lust ist für jeden da
Sommerblut-Festival: „Fucking Disabled“ am Orangerie-Theater – Festival 05/18
„Angst vor dem Anderssein“
Charlotte Sprenger und Matthias Köhler über das Diversity-Festival Britney X – Festival 05/18
Liebes-Vierer zur Primetime
Das Verständnis von Liebe ist an historische Kontexte gebunden – THEMA 07/17 NEUE ZÄRTLICHKEIT
Notwendige Sensibilisierung
IDAHOT-Programm im Filmforum – Foyer 05/17
Mehr Mut
Bei den 31. Teddy Awards auf der Berlinale ging es um Toleranz – Festival 02/17
Tänzerische Transformation
„Kiki“ beim 6. Filmfest Homochrom – Foyer 10/16
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen