choices: Frau Keller, braucht es immer noch ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen?
Heidi Keller: Es ist ein afrikanisches Sprichwort, das sich verselbständigt hat. Doch man muss sich erst einmal überlegen, was es in der Konsequenz bedeuten würde. Dann könnten sich alle Kinder in der Stadt gar nicht vernünftig entwickeln, da sie auf kein Dorf zurückgreifen können. Solche allgemeinen Äußerungen halte ich für wenig hilfreich. Was man sicher sagen kann, ist, das Kinder in sehr unterschiedlichen sozialen Konstellationen heranwachsen. Das eine ist dabei nicht schädlicher als das andere oder das andere besser als das eine. Wenn man sich die Literatur anschaut, gibt es so gut wie alle Konstellationen.
„In vielen Teilen der Welt kommt die Sozialisationsfunktion der Gruppe der Gleichaltrigen zu“
Welche genau?
In der westlichen Mittelschicht beispielsweise ist der Fokus ganz klar auf der Mutter-Kind-Beziehung, auch, wenn Väter und andere Personen immer wieder als potentielle Bindungspartner genannt werden. Sowohl aus dem, was wir aus der Forschung wissen, als auch aus praktischen Bereichen wie Elterntrainings, ist es im Endeffekt immer die Mutter. In vielen Teilen der Welt kommt jedoch die wesentliche Sozialisationsfunktion der Gruppe der Gleichaltrigen zu, d.h. Kinder haben dabei eine bedeutsame Rolle.
Der Altersunterschied beträgt höchstens zwei Jahre: Fünfjährige passen sozusagen auf dreijährige auf oder vierjährige auf zweijährige. Diese Funktion, dass größere Kinder verantwortlich für kleinere sind, ist auch ganz klar mit bestimmten Sozialisationszielen verbunden. Wir haben in Indien Frauen auf dem Dorf befragt, welche Wörter ihre Kinder schon verstehen und welche sie sprechen. Darunter war auch eine Bäuerin, die ihr erstes Kind hatte. Sie sah uns nur verblüfft an und meinte: „Wovon reden Sie? Wie kann er sprechen lernen? Er hat doch keine Geschwister.“ Hier wird die Funktion der Vermittlung von kulturellem Wissen überhaupt nicht in der Eltern-Kind- oder in der Mutter-Kind-Beziehung gesehen. Auch gibt es Kulturen, in denen die Mutter ihr Kind z.B. nur stillt, wenn sie gerade verfügbar ist. Ist sie nicht in der Nähe, kann es auch jemand anders an ihrer Stelle übernehmen, der gerade auch stillt. Ausgangspunkt sind hier größere Gruppen und in diesem Zusammenhang, wird auch immer wieder jenes Sprichwort zitiert. Von der Entwicklungsgeschichte her und auch, wie es in vielen Teilen der Welt bis heute üblich ist, versorgen ganz selbstverständlich mehrere Personen die Kinder. Hierzulande ist es auch der Fall: Es gibt Babysitter, Kitas und natürlich auch Großeltern; die zwar aus den verschiedensten Gründen nicht so häufig mit einbezogen werden, aber dennoch zur Verfügung stehen.
„Kinder nehmen schon sehr früh tatsächlich am Alltag teil“
In manchen Weltregionen, haben sie gerade angedeutet, werden Mütter nach der Geburt auch ganz natürlich aufgefangen. Wie sieht es im Vergleich hierzulande aus?
In Deutschland geht es ein bisschen nach dem Prinzip der Kleinfamilie. Der Vater ist häufig bei der Entbindung dabei. In den Krankenhäusern gibt es Familienzimmer, in denen der Vater, die Mutter und das Kind eine Weile nach der Geburt zusammen bleiben. Allerdings dominiert hierzulande die Vorstellung, dass kleine Kinder vor sozialer Überflutung geschützt werden müssten. Also, dass sie nicht zu vielen Personen gleichzeitig ausgesetzt werden dürfen und sich in ruhigen Räumen befinden müssen. In vielen anderen Kulturen ist das völlig anders. Dort nehmen Kinder schon sehr früh tatsächlich am Alltag teil, in allen möglichen Facetten.
„Das Kind wird im Auge behalten, aber es steht nicht im Mittelpunkt“
Und es dreht sich auch nicht immer alles um das Kind?
Nein, eben nicht. Das Kind wird schon immer im Auge behalten, aber es steht nicht im Mittelpunkt. Und es ist auch nie alleine. Ich persönlich sehe in unserem System viele Probleme, die auch zu Symptomatiken führen können, weil vergessen wird, dass die Mutter auch eine Person ist. Das Parental-Burnout-Syndrome beispielsweise entsteht aus einer überfürsorglichen Versorgungsrolle: Einer schnellen Reaktion dem Kind gegenüber und einem Gefühl, das Baby 24 Stunden im Auge behalten zu müssen. Aus der Befürchtung heraus, sonst könnten einem Signale des Kindes entgehen. Eine belgische Gruppe hat das Parental-Burnout-Syndrome nachgewiesen und bringt es auch mit der Bindungstheorie in Verbindung. Mütter entwickeln demnach psychiatrische Symptome durch diese Überforderung aufgrund der Anspruchshaltung an sich selbst und ausgehend von ihrer Umwelt.
„Großmütter sind in Deutschland kaum in den Alltag der Kinder eingebunden“
Es fehlt oft der Blick über die eigene Familie hinaus?
Ja genau. Ich wohne auch in einem Haus mit vielen Wohnungen, doch die Leute, die hier wohnen, kenne ich gar nicht. Es ist ganz natürlich, dass jeder sich ein soziales Umfeld schafft – wir brauchen es ganz einfach. Wenn es aber auf der Strecke bleibt, dieses Umfeld zu entwickeln oder zu pflegen, weil man denkt, man muss Tag und Nacht für ein Baby verfügbar sein, ist das in keiner Weise eine gute Ausgangslage. Auch nicht für das Kind, das dadurch ein völlig unrealistisches Selbstbild erwirbt, was später unter Umständen zu Problemen führen kann. Bei uns sind Großmütter häufig auch noch berufstätig, würden aber dennoch gerne sehr viel mehr Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen, als sie das bislang tun. Dazu kommt, dass sie eigentlich eine Spaßfunktion inne haben. Während also in vielen anderen Kulturen Großmütter – genauso wie die Mütter – erziehen, versorgen und ernähren, sind sie in Deutschland kaum in den Alltag der Kinder eingebunden. Mitunter auch dadurch bedingt, dass in unserem Selbstverständnis die Hauptverantwortung für die Kinder bei den Eltern liegt. Bei uns leben Kinder sowieso in einer Scheinwelt, die von bestimmten Vorstellungen aus der Psychologie geprägt ist. Zum Beispiel ist aus der Entwicklungspsychologie oder auch der Bindungstheorie ein Bild vom Kind konstruiert worden, bezogen darauf, was Kinder brauchen und für sie nötig ist. Diese Auffassung geht aber häufig an den Bedürfnissen von Kindern total vorbei.
„Es finden in größeren Gruppen keine Gruppenaktivitäten mehr statt“
In welche Richtung entwickelt sich gerade der Erziehungsstil in Deutschland?
Wir nennen es diadische Exklusivität – eine Eins-zu-eins-Beziehung. Das ist ein Merkmal der Kommunikation in westlichen Mittelschicht-Kontexten generell. Wir reden und bauen Blickkontakt immer nur zu einer Person auf. D.h., mit mehreren Leuten gleichzeitig zu sprechen, funktioniert nicht, außer man alterniert. Wenn größere Gruppen zusammen sind, kann man dieses Phänomen gut beobachten. Es finden darin keine Gruppenaktivitäten mehr statt, sondern es sind immer mehrere Zweier-Gruppen, die miteinander interagieren. Oder es sind drei oder vier, von denen die anderen beiden dann zusehen. Sie haben eine passive Rolle oder hören zu, nehmen selbst aber nicht teil. Dieses Muster lernen Kinder vom ersten Lebenstag an, forciert durch die Wertschätzung dieser diadischen Konstellation in vielen Bereichen. Es wird als die gesunde Form des Aufwachsens und Entwickelns beschrieben. Die Annahme ist auch, dass der Interaktionspartner idealerweise ein Erwachsener sein soll, sprich die Beziehung eines Erwachsenen zu einem Kind.
„Kinder verlieren darüber auch soziale Kompetenzen“
Was fehlt dabei?
In Untersuchungen, die wir selbst dazu gemacht haben, konnten wir feststellen, dass Kinder darüber auch soziale Kompetenzen verlieren. Sie sind nicht mehr in der Lage, zu dritt kleine Probleme lösen, weil sie es gewohnt sind, immer alles selbst zu machen. Warum zum Beispiel hat der Betreuungsschlüssel in der Kita diese übermächtige Funktion in der Diskussion? Weil darin der Wunsch artikuliert wird, im Alltag möglichst viele Erwachsene mit möglichst wenig Kindern aufeinander treffen zu lassen. Es wurde eine Untersuchung mit Kindern gemacht, um herauszufinden, wie gut sie mit Einschränkungen zurecht kamen, die durch Corona zustande gekommen sind. Dabei war die Aufgabe: Es standen zwei Räume zur Verfügung. Die Kinder konnten einteilen, wer in welchen Raum geht. Was haben sie gemacht? Viele der Kinder teilten die Kinder in einem Raum und die Erzieher in den anderen ein. Als ich ein vierjähriges Mädchen gefragt habe, wann es in der Kita am schönsten ist oder was ihr daran am besten gefällt, hat sie mir gesagt: „Wenn nur ganz wenig Erzieherinnen da sind und ganz viele Kinder.“ Dieser enge Kontakt, ausschließlich zu Erwachsenen, ist nicht unbedingt das, was dem Wunsch der Kinder entspricht. Doch die Mitarbeitenden in den Einrichtungen nehmen das überhaupt nicht zur Kenntnis. Wir sollten vielmehr hinschauen, was Kinder wirklich fasziniert. Sie sind total interessiert an anderen Kindern, würden gerne auf kleinere aufpassen und sie füttern. Oder beim Kehren helfen: Das machen Kinder alle mit größter Begeisterung. Doch sie werden daran gehindert, weil sie Kinder sind und nicht arbeiten sollten. Damit nimmt man ihnen auch ein großes Stück Verantwortungslernen.
„Man muss es immer in dem Kontext betrachten, in dem man lebt“
Sie haben sich mit sehr unterschiedlichen Kulturen auseinandergesetzt. Welcher Erziehungsstil könnte zum Import-Schlager für Deutschland werden?
Keiner, das ist es ja. Man muss es immer in dem Kontext betrachten, in dem man lebt. Da ist eine symbolische Umwelt, aus den Werten und Normen, eine soziale Umwelt und eine materielle. An sie ist unser Verhalten generell angepasst und deshalb lassen sich einzelne Elemente daraus oder ein gesamter Erziehungsstil weder exportieren noch importieren. Was man lernen kann, ist, dass es viele verschiedene Arten gibt, Kinder zu erfolgreichen Teilnehmern an den sozialen Milieus, in denen sie leben, zu machen – in jedem Bereich: emotional, sozial und auch von der Kompetenz her.
„Für Kinder, die mit einer anderen Kultur kommen, ist es wichtig, dass sie diese Kultur auch behalten“
Ziel sollte sein, Kinder in jede Gesellschaft zu integrieren?
Bei Flüchtlingen und Familien mit Migrationshintergrund zum Beispiel kommt immer das Argument: Sie können das bei sich zu Hause so machen, aber jetzt sind Sie in Deutschland und da müssen Sie sich auch so verhalten wie Deutsche. Neulich hat ein Richter in einem Prozess, in dem eine nigerianische Mutter darum kämpft, ihre vier Kinder zurück zu bekommen, behauptet, die Kinder würden in Deutschland leben und dann wäre es besser für sie, auch in einer deutschen Familie aufzuwachsen. Das muss man sich mal vorstellen: Was da für ein Denken dahinter steckt! Wobei, wenn man Leute fragt, was typisch deutsch, was deutsche Kultur sei, da kriegt man so viele Antworten wie man Leute fragt. Für Kinder, die mit einer anderen Kultur kommen oder zum Teil in einer anderen Kultur aufwachsen, ist es wichtig, dass sie die Möglichkeit bekommen, diese Kultur auch zu behalten. Es gibt dazu ein schönes Buch, „Is becoming American a Developmental Risk?“. Darin hat man Migranten aus Zentralamerika, die in die USA eingewandert sind, untersucht. Diejenigen, die ihre Heimatkultur völlig aufgegeben hatten und ganz amerikanisch wurden, hatten die größten Probleme in Bezug auf Bildung, ökonomische Absicherung, Gesundheit, Wohlbefinden bis hin zu Kriminalität. Am besten ging es tatsächlich denen, die ihre Kultur gelebt, aber eben auch die neue Kultur erworben haben.
Sie erlebten das als identitätsstiftend?
Genau. Wir können mit mehr als mit einer Kultur gut leben, selbst wenn zum Teil auch mehr als zwei Kulturen auf ganz individuelle Art und Weise verbunden werden. Das sieht man immer wieder bei sogenannten erfolgreichen Migranten. Manche können es im Alltag verbinden, andere trennen ganz klar zwischen zuhause und der öffentlichen Welt – die unterschiedlichsten Formen sind hier möglich.
FREMDE BRÄUCHE - Aktiv im Thema
bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/lebendige-traditionen-bewahren-425694 | Informationen der Bundesregierung zum Schutz des immateriellen Kulturerbes in Deutschland.
unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/traditionen | Essay des Ethnologen Wolfgang Kaschuba über Bewahren und Wandel von Brauchtum.
religionen-entdecken.de/lexikon/f/feste-in-den-religionen | Kompakte Informationen zu religiösen Festen, vor allem für Kinder von 8 bis 13 Jahren.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
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