Ende Januar wurde eine weit über 80 Jahre alte Rentnerin aus dem englischen Banstead mit Nierenversagen und Druckstellen in ihrer Wohnung gefunden. Ihr Pflegedienst war in den Fokus der Polizei geraten, nach einer Razzia wurde die Firma geschlossen und vier Menschen wegen des Verdachts auf Betrug und illegaler Beschäftigung verhaftet. Die Rentnerin hatte man dabei vergessen. Es ist ein drastischer Fall, aber er weist auf ein größeres Problem. Die private Pflege von Menschen, die eine Betreuung rund um die Uhr benötigen, findet zunehmend in einer europäisierten Grauzone statt – nicht nur in England, sondern auch in Deutschland.
90 Prozent der osteuropäischen Pflegekräfte in der BRD arbeiten schwarz
„Geschätzt sind in Deutschland ca. 100.000 bis 150.000 Pflegekräfte aus Osteuropa tätig”, meint Laura Dauer vom Bundesverband Europäischer Betreuungs- und Pflegekräfte. „90 Prozent davon arbeiten schwarz.” In der Mehrzahl handelt es hierbei um Frauen aus Osteuropa, überwiegend aus Polen, die als Pflegeassistentinnen arbeiten. Sie werden kurz geschult, lernen rudimentär Deutsch und leben gemeinsam mit den Senioren, die sie betreuen, in einer Wohnung. Gut 1.200 Euro netto verdiene eine solche Kraft, dazu kämen in der Regel Kost und Logis. „Österreich ist für viele Frauen attraktiver als Deutschland“, berichtet Laura Dauer von ihren Gesprächen. Dort habe man das Problem der Schwarzarbeit durch eine Amnestie gelindert. In Deutschland hat die Union dies letztes Jahr erwogen, den Plan aber wieder fallengelassen.
Die Lage der Frauen verbessert diese Blockade nicht. Weder für die Pflegekräfte noch für die Betreuten herrscht in der BRD ausreichend Rechtssicherheit. Wird ein Patient übergriffig oder werden Abmachungen über die Pflege oder die Arbeitszeit nicht eingehalten, ist der Gang zur Polizei oder zum Arbeitsgericht ausgeschlossen. Gewinner dieser Situation sind Agenturen, die mit der rassistischen Behauptung, dass „es in der Natur” osteuropäischer Frauen liege, „fürsorglich, warmherzig und liebevoll“ zu sein, werben und auf Provisionsbasis Pflegekräfte vermitteln. Nach dem Entsendegesetz könne eine solche Praxis illegal sein, meint Laura Dauer: „Es kommt vor, dass Firmen durch Vermittlungstätigkeit in Deutschland Geld verdienen, aber keine Sozialabgaben hier zahlen.” So entgehen dem Staat Einnahmen für die Sozialkassen, und die Frauen sind in ihrer Ausbeutungssituation ungeschützt, während sich die Pflegebedürftigen und ihre Familien wegen illegaler Beschäftigung strafbar machen.
Diese Situation zu beenden und gleichzeitig die Position der osteuropäischen Pflegekräfte zu verbessern, ist dabei die eigentliche Herausforderung. Die wenige Macht, die osteuropäische Arbeitnehmerinnen momentan besitzen, speist sich aus ihrer prekären, transnationalen Beschäftigungssituation. Nach zwei Monaten Vollzeitpflege kehren sie häufig in ihre Heimat zurück und teilen sich daher zu zweit oder zu dritt eine Pflegestelle. Diese Pendelmigration ist notwendig, um die Existenz der eigenen Familie nicht stärker zu gefährden. Jede Reform muss dies berücksichtigen – die Familie ist Teil der europäischen Arbeitsmigration geworden.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Demonstration „Ein Europa für Alle“
So 19.5. ab 11 Uhr
Die fabelhafte Welt der Gesetzemacher
Gesprächsrunde mit Dokumentarfilmer David Bernet über „Democracy – Im Rausch der Daten“ – Foyer 11/15
Griechische Verhältnisse
„A Blast – Ausbruch“ im OFF-Broadway – Foyer 04/15
„Jedes Land macht sein eigenes Europa“
„Kursbuch“-Herausgeber Armin Nassehi über die europäische Öffentlichkeit – Thema 09/13 Welche Wahl
Enge Grenzen
Zuwanderung und Auswanderung halten sich fast die Waage – Thema 07/13 Willkommen
Vom Hooligan zum Hipster
Englands Fußballfankultur, die Globalisierung und der Rest der Welt – Thema 05/13 Elf Feinde?
Es beginnt beim „Du“
Missbrauch in der Pflege ist ein alltägliches Phänomen – THEMA 03/13 SCHUTZBEFOHLEN
„Der Missbrauch ist alltäglich“
Der Sozialpädagoge Claus Fussek fordert mehr Zivilcourage in der Altenpflege – Thema 03/13 Schutzbefohlen
„Man muss Zwangsanwendung nüchtern diskutieren“
Für Detlef Silvers ist eine sorgfältige Abwägung der erste Schritt gegen Missbrauch – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Das Kommando der Pflegefabrik
Die Sprache im Pflegeheim verrät die Arbeitsbedingungen – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Kampf um Kalorien
Intro – Den Bach runter
Keine Frage der Technik
Teil 1: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 1: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
Von Autos befreit
Teil 1: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 2: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 2: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
Unter Fledermäusen
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Nach dem Beton
Teil 3: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 3: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Was bleibt
Die Natur und wir – Glosse
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
So ein Pech
Teil 1: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 1: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient