Es ist immer noch das Modell der Fabrik, nach dem unsere Gesellschaft tickt. Doch während sich in der herkömmlichen Fabrik die ArbeiterInnen dagegen wehren, auf die Ware Arbeitskraft reduziert zu werden, ist das im Pflegebereich, in dem tayloristische Prinzipen auf den „Dienst an Personen“ angewandt werden, vertrackter. Hier werden Menschen als Arbeitskräfte wie auch Menschen als Arbeitsprodukte gleichermaßen einer Objektivierung preisgegeben. Aber Pflegekräfte können sich zumindest noch organisieren und gegen Arbeitshetze, stumpfsinnige Routinisierung oder körperliche wie seelische Belastung wehren. Pflegebedürftige alte Menschen sind dagegen häufig auf sich allein gestellt und der Vermassung und Depersonalisierung des Pflegebereichs mehr oder wenig ausgeliefert. Dies wird in den sprachlichen Konflikten zwischen Pflegepersonal und pflegebedürftiger Person besonders deutlich.
Die Sprache schreibt das Selbstverständnis von Pflegepatienten fest
Wir kennen ihn von unseren eigenen Krankenhausaufenthalten; wir erleben ihn, wenn wir Freunde und Verwandtein Pflegeheimen besuchen: den „Care-Speak“ mit seinen Infantilisierungen wie „Lätzchen“ oder „Pippi machen“, diesen „Baby-Talk“, mit hoher Intonation, kurzen, verniedlichenden Sätzen, mit diesen auf den bloßen Arbeitsvorgang zurechtgestutzten Anweisungen wie „Popo heben, Kopf drehen“ oder die peinigenden „Wir“-Anrufungen: „Wie geht es uns denn heute?“ Für pflegebedürftige Personen bedeutet dies, institutionellen Formen der symbolischen Gewalt und Diskriminierung ausgeliefert zu sein. Ihr Selbstverständnis als „alte“, „hilfsbedürftige“ Person, die nur noch eine Belastung für die Gesellschaft darstellt, wird so festgeschrieben. Diese Sprache der Pflegekräfte ist aber nicht Ausdruck eines bösen Willens oder bloße Übertragung von eigenen Ängsten vor dem Altern. Das Zurechtstutzen des Gegenübers zu einem „Pflegefall“, zu einem Objekt der Pflege, hat eine Doppelfunktion: Es schützt davor, zu sehr emotional involviert zu sein, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, das Schritttempo in den Fabriken der Pflege aufrechtzuerhalten.
Mittlerweile haben sich Pflegeheime dieser Problematik angenommen und versuchen, ihrem Pflegepersonal etwas mehr „menschlichen Umgang“ einzuhauchen, indem sie dieses in Sachen Selbstreflektion, angemessener Sprache und Empathie unterrichten. Doch diese Aufforderungen bleiben Kosmetik, werden nicht auch die Verhältnisse mitdiskutiert, in denen diese Redeweisen erst eine Gewaltform annehmen. Zudem kommt hinzu, dass dieser sprachfixierte „menschliche Umgang“ zunehmend Pflegekräften mit Migrationshintergrund abverlangt wird, für die er eine Doppelbelastung darstellt. So werden das in Routinen gepresste Pflegepersonal und die pflegebedürftigen „Klienten“ gegeneinander ausgespielt. Solange sich die Arbeitsverhältnisse wie auch die institutionelle Anordnung in der Pflege nicht grundlegend ändern, wird der „richtige“ sprachliche Umgang immer wieder in das entmenschlichte Kommando der Fabrik zurückfallen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
„Man muss Zwangsanwendung nüchtern diskutieren“
Für Detlef Silvers ist eine sorgfältige Abwägung der erste Schritt gegen Missbrauch – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Ausweitung der Grauzone
Die Familie ist Teil europäischer Pflegemigration – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Es beginnt beim „Du“
Missbrauch in der Pflege ist ein alltägliches Phänomen – THEMA 03/13 SCHUTZBEFOHLEN
„Der Missbrauch ist alltäglich“
Der Sozialpädagoge Claus Fussek fordert mehr Zivilcourage in der Altenpflege – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Kampf um Kalorien
Intro – Den Bach runter
Keine Frage der Technik
Teil 1: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 1: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
Von Autos befreit
Teil 1: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 2: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 2: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
Unter Fledermäusen
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Nach dem Beton
Teil 3: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 3: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Was bleibt
Die Natur und wir – Glosse
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
So ein Pech
Teil 1: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 1: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Gesundheit ist Patientensache
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Heimat statt Pflegeheim
Teil 2: Leitartikel – Seniorengerechtes Bauen und Wohnen bleibt ein Problem
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 2: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
Gemeinsam statt einsam
Teil 2: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Privatvergnügen
Teil 3: Leitartikel – Die Zweiklassenmedizin diskriminiert die Mehrheit der Gesellschaft
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 3: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin