Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.582 Beiträge zu
3.812 Filmen im Forum

Günther Roos (2.v.l.) bei einer Übung der Brühler Nachrichten-HJ am 10. Juni 1939 auf der Falkenluster Allee
Foto: © NS-DOK

Vom Hitlerjungen zum Zeitzeugen

10. März 2017

Buchvorstellung im NS-Dokumentationszentrum zur nationalsozialistischen Indoktrination – Literatur 03/17

Das NS-Dokumentationszentrum und die Bundeszentrale für politische Bildung präsentieren das Buch „,Macht will ich haben!‘ – Die Erziehung des Hitlerjungen Günther Roos zum Nationalsozialisten“ des Historikers Dr. Martin Rüther, das durch eine mit umfangreichem Quellen- und Zusatzmaterial angereicherte Webseite ergänzt wird. Günther Roos, Jahrgang 1924, aus dem bürgerlich-katholischen Brühl, wird erst durch seinen Vater, dann ab der Machtergreifung 1933 durch Schule und Medien von der NS-Propaganda indoktriniert. Er lernt Rassismus, Antisemitismus, Überlegenheitswahn und Hitler-Verehrung. Erst war er bei Jungvolk und Hitlerjugend, später bei Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht. Er wollte dazugehören, Macht ausüben, stellte Günther Roos rückblickend fest.

„Macht will ich haben! Alle sollen mich lieben oder fürchten“, lautete sein Tagebucheintrag vom 19. April 1942. Anfangs macht der Bub ahnungslos mit: skandiert beim Fackelzug antisemitische Parolen, singt nationalsozialistische Lieder und glaubt euphorisch an eine neue Zeit. Höhepunkte für ihn und seinen Bruder waren die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch deutsche Soldaten am 7. März 1936 und der Besuch Hitlers in Brühl am 29. März. Die Tagebucheinträge zeugen von der Massenpsychose, die bei Zusehern beim Anblick Hitlers eintrat.


Hans-Georg Golz, Martin Rüther und Werner Jung (v.l.n.r.) präsentieren das Buch
Foto: Katja Sindemann

Die Beschreibung von Roos‘ Ideologisierung wird von Martin Rüther durch Infotexte, Fotos und chronologische Erklärungen ergänzt, die ein umfassendes Bild ermöglichen. Der Historiker sagt über den Zeitzeugen Roos: „Außergewöhnlich ist die umfangreiche Quellenlage. Es existieren Tagebücher, Feldpostbriefe, Zeichnungen, Fotos, nicht nur von ihm, sondern auch von Vater und Bruder.“ Auf der Webseite sind neben dem Flipbook, der digitalen Buchversion, Quellendokumente und Zusatzmaterialien wie Rundfunkmitschnitte, Filme oder Zeitzeugeninterviews abrufbar. Dr. Hans-Georg Golz, Fachbereichsleiter Print der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), der die Publikation unterstützt hat, erklärt: „Zielpublikum sind Jugendliche und junge Erwachsene, die über die Wirkung von Indoktrination aufgeklärt werden sollen. Außerdem sind umfangreiche, anwendungsbereite Unterrichtsmaterialien für Lehrer der Sekundarstufe I und II enthalten.“

Günther Roos durchlief nach 1945 einen schmerzhaften Entwicklungsprozess. Anfangs herrschte Orientierungslosigkeit. Nach der Lektüre von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ stellt er seinen militärischen Ehrgeiz in Frage. Er verfolgt, wie schnell ehemalige Nationalsozialisten die Seiten wechseln. Doch die Erinnerung lässt ihn auch nach Jahrzehnten nicht los. In den 80er Jahren transkribiert er seine Tagebücher, ohne sie zu redigieren, und kommentiert sie. Rüther dazu: „Roos hat große Offenheit an den Tag gelegt. Er war sich bewusst, dass er sich an den Pranger stellt. 2008 und 2012 habe ich lange Interviews mit ihm geführt, in denen er alle Fragen beantwortet hat.“ Im hohen Alter geht Roos in Schulen und hält Vorträge, in denen er über seine jugendliche Fanatisierung und spätere Loslösung vom NS-Gedankengut spricht. Er sei froh über das Ende des NS-Regimes, denn sonst wäre er zum Mörder geworden, lautet seine Erkenntnis.

Witwe Margot Roos spricht im Namen ihres 2013 verstorbenen Gatten: „Mit dem Buch geht sein Herzenswunsch in Erfüllung. Er war vom NS-System instrumentalisiert und missbraucht worden und hat sich jahrelang dafür engagiert, dass sich dies nicht wiederholt, dass junge Menschen lernen, Dinge zu hinterfragen.“ Dr. Werner Jung, Direktor des NS-Dokumentationszentrums, weist daraufhin, dass das Buch sowohl an diesem als auch in Shops der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn und Berlin für 7 Euro erhältlich ist. Eine Parallele zur heutigen Zeit ziehe das Buch nicht, antwortet er auf eine entsprechende Journalistenfrage. Aber vielleicht ist das auch nicht nötig, denn Inhalt von Buch und Webseite sprechen für sich.

„Macht will ich haben!“ – Die Erziehung des Hitlerjungen Günther Roos zum Nationalsozialisten | bpb | 269 S. | 7 € | erhältlich an der Kasse des NS-Dokumentationszentrums und im Shop der Bundeszentrale für politische Bildung | www.roos.nsdok.de

Katja Sindemann

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mufasa: Der König der Löwen

Lesen Sie dazu auch:

Vom Umgang mit dem Widerstand
„Kritik im Nationalsozialismus“ im NS-DOK

Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24

Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24

Aufklärungsarbeit, wo sie dringlich ist
Das Themenfeld „Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum

Zeitlose Seelenstifter
„Kulturretter:innen“ im NS-Dok – Spezial 06/24

„Gedenken ist kein rückwärtsgerichtetes Tun“
Seit rund einem Jahr leitet Henning Borggräfe das NS-Dok – Interview 10/23

Symbole für die Ewigkeit?
„Haut, Stein“ im NS DOK – Kunst 10/22

Gott und Nationalsozialismus
Theo Beckers Bilder im NS DOK – Kunst 07/22

Die letzte Bastion der Freiheit: Humor
„Philibert & Fifi“ im EL-DE Haus – Interview 10/21

Humor gegen Unmenschlichkeit
„Philibert und Fifi“ im EL-DE Haus – Kunst 09/21

Nicht politisch
„1934 – Stimmen“ von Futur3 fragt, wie Menschen sich radikalisieren – Auftritt 10/20

1945 polyphon
„Kriegsenden in Köln“ im NS-DOK – Spezial 03/20

Literatur.

HINWEIS