choices: Frau Lamberty, Sie setzen sich mit Verschwörungsideologien auseinander. Wie sind Sie dazu gekommen?
Pia Lamberty: Ich habe mich schon lange mit Ideologien auseinandergesetzt, mit verschiedenen Formen von Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Dabei fiel mir auf, dass Verschwörungsglaube immer eine größere Rolle spielt und auch das Potential hat, verschiedene politische Gruppierungen miteinander zu verbinden. Nehmen wir den Bioladen, in dem esoterische Zeitschriften ausliegen, die für rechte Verlage werben – hier haben wir eine Gemengelage, indem Bildungsbürger aus dem linken Lager mit diesen Ideologien in Kontakt kommen. Diese Gefahr von Verschwörungserzählungen war bislang kaum erforscht, daher habe ich vor sechs, sieben Jahren angefangen, mich mit dem Thema zu beschäftigen.
Für altgediente Verschwörungsideologen muss die Covid-19-Pandemie ja ein wahres Fest sein.
Es war recht spannend, was während der Pandemie passiert ist: Zum einen war es so, dass die rechtsextremen Parteien relativ leise blieben und keine klare Position bezogen. Gleichzeitig haben aber nicht nur altbekannte Namen der Verschwörungsszene die Gunst der Stunde genutzt, sondern es kamen auch neue Akteure dazu. Zum einen Prominente, wie ein veganer Kochbuchautor, der in der Vergangenheit eher durch rassistische odersexistische Äußerungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei aufgefallen war, es gab aber auch viele neue Facebook-Gruppen, die extrem schnell gewachsen sind und von Leuten gegründet wurden, die vorher nicht bekannt waren. Die haben zuvor vielleicht mal politische Inhalte geteilt, waren aber keine Akteure, das heißt, es gab eine neue Dynamik in dieser Szene.
Seit Beginn des Jahrhunderts, verstärkt im vergangenen Jahrzehnt, ist eine stärkere öffentliche Präsenz von Verschwörungserzählungen zu beobachten. Warum?
Der Verschwörungsglaube ist einfach etwas, das wirklich tief in der menschlichen Gesellschaft verankert ist. In der Psychologie gehen wir mittlerweile davon aus, dass er vermutlich eine evolutionäre Grundlage hat. Im Mittelalter etwa wurden Juden bezichtigt, für die Pest-Epidemie verantwortlichzu sein und angeblich Brunnen vergiftet zu haben – auch das waren Verschwörungserzählungen, die oft zu gewalttätigen Pogromen geführt haben. Der Nationalsozialismus hat stark oder sogar maßgeblich über antisemitische Verschwörungsmythen funktioniert und aus den 80er Jahren gibt es Studien, die zeigen, dass knapp 40 Prozent der Deutschen an eine fremdgesteuerte Lügenpresse glauben. Was sich meiner Ansicht nach gewandelt hat, ist vor allem das gesellschaftliche Bewusstsein für solche Narrative. Sie wurden sichtbarer und klarer benannt und insbesondere während der Pandemie als Problem wahrgenommen. Davor wurde das Thema ja eher belächelt, etwa unter dem Stichwort „Alu-Hüte“. Das ist eine Bezeichnung, die signalisiert: Dassind Verrückte und nur eine kleine Gruppe. Damit wurde es verharmlost. Deswegen spreche ich mich auch immer gegen eine Pathologisierung aus, denn die Konsequenz ist in der Regel, dass man es aus dem gesellschaftlichen Kontext hebt und damit auch nichtmehr ernst nimmt.
Politisch gesehen wird Verschwörungsglaube eher mit dem rechten Spektrum assoziiert – zutreffend oder ein Trugschluss?
Der Glaube an Verschwörungen findet sich tatsächlich stärker im rechten bis rechtsextremen und rechtspopulistischen Spektrum. Das gilt nicht nur für Deutschland: Von vielen Ländern wissen wir, dass Verschwörungsglaube eher ein Phänomen des rechten Spektrums ist. Man darf aber nicht den Fehler machen zu glauben, man fände es nur dort.Die Gefahr des Verschwörungsglaubens besteht ja eben darin, dass er an ganz verschiedene politische Narrative angepasst werden kann und sich in allen möglichen Gruppierungen findet – auch in eher linken, alternativen Kreisen, etwa über eine Elitenfeindlichkeit, die dann ins Verschwörungsideologische überhöht wird, auch in der politischen Mitte. Egal ob gebildet oder nicht, man findet es tatsächlich in der gesamten Gesellschaft. Vor Corona war das im Spektrum der sogenannten Impfkritiker zu sehen, in dem man zum einen alternativeund gutbürgerliche Menschen findet, aber auch solche aus der extremen Rechten, die das Thema rassistisch oder antisemitisch aufgeladen haben.
Welche Rolle spielt Verschwörungsglaube bei der Radikalisierung politischer Weltbilder?
Die genauen Dynamiken des Radikalisierungsprozesses müssen noch stärker erforscht werden, wir stehen da immer noch sehr am Anfang. Wenn man sich die Form der Verschwörungserzählungen anschaut, kann man aber sagen, dass sie über verschiedene Mechanismen durchaus radikalisierend wirken können, etwa, indem sie das absolut Böse zeichnen. Wenn man etwa davon ausgeht, dass die Regierung giftige Chemikalien versprüht, um die Menschheit zu dezimieren, dann ist das keine schlechte Politik, sondern das absolut Böse. Und in dem Moment,indem man das absolut Böse konstruiert, kann man sich selbst natürlich als das absolut Gute aufwerten, damit auch gegenüber jeglicher Kritik immunisieren und im letzten Schritt Gewalt rechtfertigen. Es gibt eine Analyse zweierPolitikwissenschaftler, die zeigen konnten, dass für alle terroristischen Gruppierungen Verschwörungserzählungen ein wichtiges Element der politischen Mobilisierung darstellen und elementar in diese Ideologien eingebettet sind. Aus Studien wissen wir auch, dass der Verschwörungsglaube mit einer höheren Gewaltaffinität und Gewaltbereitschaft einhergeht. Die Daten der sogenannten Mittelstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom letzten Jahr zeigen, dass ein Viertel der Verschwörungsgläubigen gewaltbereit ist.
Die Medien spielen für politische Verschwörungsmythen als „Systempresse“, „Mainstreammedien“ etc. eine zentrale Rolle. Welche Strategien wirken hier?
Das ist ziemlich spannend: Ich habe den Eindruck, dass wir es hier mit einer instrumentellen Herangehensweise zu tun haben, einer ambivalenten Herangehensweise. Auf der einen Seite werden auch in dieser Szene Medien genutzt, um ihre eigene Meinung zu untermauern. Wenn man sich entsprechende Facebook- oder Telegram-Gruppen anschaut, sieht man immer wieder, dass durchaus auch auf Medien rekurriert wird. Es wird nur dann Lügenpresse gerufen, wenn die eigene Meinung nicht in den Medien widergespiegelt wird. Ich finde es wichtig, sich genau das als Journalist bewusst zu machen: Das es eben keine pauschale Abwertung, sondern ein instrumentelles Verhältnis ist, das wir hier vorfinden. Es gab in den letzten Wochen ja Debatten um eine angebliche Vertrauenskrise der Medien, aber wenn man sich die Daten der Langzeitstudie „Medienvertrauen“ anschaut, gibt es dafür eigentlich wenig Belege. Was die Studie zeigt, ist, dass das Vertrauen in die Medien eigentlich zugenommen hat – was aber ebenfalls zugenommen hat, ist der Teil derjenigen, die die Medien konsequent ablehnen. Das heißt, wir haben eigentlich eine Polarisierung und ich finde es wichtig, das zu unterscheiden. Wenn man immer wieder von einer Vertrauenskrise spricht, obwohl eigentlich keine vorliegt, kann man es natürlich auch befeuern und so zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung machen. Ich bin immer dafür, sich selbst zu reflektieren und glaube auch, dass in der medialen Berichterstattung manche Dinge besser gemacht werden können – aber von einer pauschalen Vertrauenskrise zu sprechen, das spiegelt die empirische Datenlage nicht wider.
Wie hat sich die Verbreitung von Verschwörungsmythen mit der Technik weiterentwickelt?
Was man jetzt während der Pandemie beobachten kann, ist eine verstärkte Nutzung von Telegram-Kanälen und -Gruppen, die vorher nicht so stark aufgetaucht sind. Ich vermute, dass das im Zusammenhang mit einem stärkeren Einschreiten der übrigen Medien steht. Bei WhatsApp ist beispielsweise die Weiterleitung von Sprachnachrichten eingeschränkt worden und bei Twitter wird eine Warnung angezeigt, wenn man „5G“ und „Corona“ twittern möchte. YouTube hat an seinen Algorithmen gearbeitet, auch Facebook hat ähnliche Maßnahmen getroffen. Das heißt, die Verschwörungsideologen mussten sich eine andere Plattform suchen, um ihre Inhalte verbreiten zu können, ohne dabei gestört zu werden. Telegram ist in dieser Hinsicht auch in der Vergangenheit schon negativ aufgefallen: Der IS hat bis vor ein paar Jahren stark über Telegram mobilisiert, aber auch die extreme Rechte in den USA nutzt diesen Dienst schon seit Längerem. Teilweise nutzen diese Gruppierungen die Maßnahmen, die die Netzwerke ergreifen, auch für sich aus, indem sie sagen: Auf Youtube kann man nicht mehr sagen, was man will – kommt hierhin und ihr werdet die Wahrheit erfahren. Das heißt, sie nutzen es strategisch. Auch wird viel mitAndeutungen und Suggestivfragengearbeitet: Es wird gar nicht immer die komplette Verschwörungserzählung präsentiert, sondern man muss sie sich praktisch selbst konstruieren, dadurch sickert sie noch einmal tiefer ein. QAnon hat das im Grunde perfektioniert: Die Verbreiter dieser US-amerikanischen Verschwörungserzählung vom „Deep State“ posten oft sehr kryptische Nachrichten auf sogenannten Imageboards, in die man alles und nichts hineininterpretieren kann. Die Anhänger nehmen diese kryptischen „Brotkrumen“ auf und bilden daraus ihre eigenen Narrative. Das heißt, man kann die Verschwörungserzählung noch viel stärker mit eigenen Ideologien und Narrativen aufladen und sie quasi persönlich passend machen. Das ist noch einmal gefährlicher, als wenn man eine Verschwörungserzählung einfach nur passiv übernimmt. Auf diesen Imageboards begibt man sich in eine Art Sensationskonkurrenz, in die man sich immer stärker hineinsteigert. Das ist ein wenig wie eine Schnitzeljagd – man ist angefixt, die „wahre Geschichte“ zu finden, das ist viel interaktiver und bindet noch stärker.
Inwieweit werden Verschwörungstheorien im „aufrechten Glauben“ an diese verbreitet und inwieweit werden sie instrumentalisiert, um politische Ziele zu erreichen?
Man kann die Motivationslage von einzelnen Akteuren immer noch relativ schwer abschätzen, insbesondere wenn wir jetzt von den aktiven Verbreitern dieser Ideologien sprechen, weil diese für die empirische Forschung natürlich schwer zugänglich sind. Ich würde unterteilen in Akteure, die diese Inhalte verbreiten, weil sie selbst daran glauben, was für den Einzelnen ja verschiedene Funktionen erfüllen kann. Wir wissen etwa aus der psychologischen Forschung, dass der Glaube an VerschwörungenEinzigartigkeitsbedürfnisse befriedigenkann. Das heißt, man kann sich über andere überhöhen, man hat das Gefühl, man kennt die Wahrheit, während die anderen als naiv, als „Schlafschafe“ oder gleich als Teil des Systems gebrandmarkt werden. Insbesondere Krisenzeiten befeuern das, egal ob gesellschaftlich oder persönlich. Dann gibt es Gruppen oder Menschen,die daran verdienen wollen, indem sie angebliche Entstörer gegen 5G oder Chemtrails verkaufen, die dann teilweise mehrere hundert Euro kosten. Und dann gibt es die, die es zur politischen Mobilisierung nutzen, weil sie wissen, dass der Glaube an Verschwörungen sich einfach perfekt dafür eignet. Man entzieht sich ja komplett einem demokratischen Diskurs: Wenn ich glaube, dass ohnehin sämtliche Politiker nur Marionetten sind, hinter denen irgendwelche dunklen Mächte stehen, dann ist es egal, was diese Politiker tun, denn selbst wenn sie das Beste für die Bevölkerung wollen, gibt es immer diese dunklen Mächte im Hintergrund. Das wird gezielt genutzt und eingesetzt: Das FBI hat etwa 2019 eigens eine Warnung ausgesprochen, dass der Verschwörungsglaube genutzt wird, um Terroranschläge zu legitimieren, das haben wir weltweit in den letzten Jahren auch verstärkt beobachtet. In Deutschland haben Verschwörungserzählungen bei der Legitimierung der Terroranschläge in Halle, aber auch in Hanau, eine zentrale Rolle gespielt. Diesen Punkt darf man nicht vernachlässigen. Auch die AfD nutzt solche Narrative, etwa unter dem Stichwort, „Der große Austausch“, nach dem angeblich die weiße Bevölkerung durch Geflüchtete oder Muslime ausgetauscht werden soll. Das wird nicht nur von unbekannten Politikern oder Anhängern der AfD verbreitet, sondern eben auch von den oberen Rängen, immer wieder und wieder. Studien zeigen, dass bis zu 20 Prozent der Bevölkerung an dieses oder ähnliche Narrative glauben.
Welche Gegenstrategien sind vorstellbar, z. B. in der Medienbildung?
Mein Eindruck ist, dass es mittlerweile gute Empfehlungen für den individuellen Bereich gibt, etwa für Verschwörungsideologien in der eigenen Familie oder im Freundeskreis. Es gibt auch schon einige Ansätze im Bereich Social Media, auch wenn das sicherlich noch ausbaufähig ist. Nach meinem Gefühl haben wir da auf einer gesellschaftlichen Ebene aber noch eine ganz große Leerstelle stehen. Da sind wir eigentlich erst am Anfang der Diskussion, weil dieses Thema eben sehr lange ignoriert und eher ins Lächerliche gezogen wurde. Auch in der Forschung befinden wir uns tatsächlich noch recht am Anfang. Die allererste Studie aus einer psychologischen oder soziologischen Sicht gab es 1994, dann kam ganz lange nichts und erst in den letzten zehn Jahren wurde dieses Themenfeld stärker beforscht. Ich denke schon, dass wir mehr Medienbildung in der Schule oder überhaupt in der Gesellschaft brauchen, weil Menschen oft nicht in der Lage sind zu verstehen, was gute Quellen sind und wie man sie erkennen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob das den Verschwörungsglaube wirklich minimieren würde, aber vielleicht stärkt es den Rest der Gesellschaft in der Argumentation. Ich glaube, es braucht mehr anwendungsbezogene Forschung und eine stärkere Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen und zwar über Modellprojekte hinaus. Da braucht es eine stabile Vergabe von Geldern und eine Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Forschung.
Wie halten liberale Gesellschaften Verschwörungsideologien aus?
Prinzipiell ist es nicht problematisch, wenn jemand an eine Verschwörungserzählung glaubt, was ja nicht immer falsch ist– es gibt ja tatsächlich reale Verschwörungenund ich finde, das muss man dann auch aushalten können. Problematisch wird es, wenn es mit Feindbildern einhergeht. Wir sehen sehr oft, dass etwa Antisemitismus einen elementaren Bestandteil des Verschwörungsglaubens darstellt. Da wird natürlich eine Grenze überschritten, die man einfach verteidigen muss, die eine rote Linie darstellt. Auch Rassismus wird immer stärker verschwörungsideologisch aufgeladen, eben über Narrative wie den großen Austausch. Auch hier wird eine Grenze überschritten, der man als Gesellschaft Gegenrede leisten muss. Wenn der Nachbar an irgendetwas glaubt, was andere Menschen nicht diffamiert, dann kann man das auch mal so stehen lassen, aber wenn es zur Ideologie wird, die mit Antisemitismus oder Rassismus einhergeht, dann muss man reagieren.
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