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Wissen und Schweigen
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Wider alle politischen An- und Abstandsregeln

29. Juli 2020

Hygienedemos: Berechtigt oder dumm? – Teil 1: Leitartikel

In der Rückschau wird 2020 als merkwürdiges Protestjahr wahrgenommen werden. Schon als Zeitgenosse staunt man angesichts der Versammlungen, die unter dem seltsamen Namen „Hygienedemo“ angeblich Flagge für die Grundrechte zeigen, sich tatsächlich aber nur gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie richten. Verstörend war auch die Bereitschaft von Rundfunk und Presse, sich am deutschen Verschwörungs-Trifolium Attila Hildmann, Ken Jebsen und Xavier Naidoo abzuarbeiten. Die linksliberale taz widmete dem Geschwurbel im Mai gar eine komplette Ausgabe. Der konservativen FAZ brannte hingegen die Frage, ob da womöglich eine „Pandemie-Pegida“ im Entstehen begriffen sei, stärker unter den Nägeln als Schwächen, Fehlentwicklungen und Missstände im Gesundheitssektor.

Die Bewegung, die mit den bis Anfang Juli erfolgten Lockerungen rasch an Zulauf verlor, zeichnet sich durch große Heterogenität aus. Neben Rechtsextremen oder Mitgliedern der sogenannten „Hooligans gegen Salafisten“ (Hogesa) – die im Oktober 2014 eine Spur der Verwüstung in Köln hinterlassen hatten – bekamen die Hygienedemos Zulauf von Neohippies, Anhängern der Alternativmedizin und Impfgegnern sowie von durch Homeschooling und Kurzarbeit zermürbten Eltern und um ihre Existenz fürchtenden Einzelhändlern und Gastronomen. Deren völlig zu Recht vorgebrachten Sorgen fanden kaum Widerhall – ein desaströses Ergebnis des medialen Pandemie-Frühjahrs 2020.

Debakel für die AfD

Protestler mit berechtigten Anliegen und Sorgen müssen sich dennoch selbstkritisch hinterfragen, wie anschlussfähig ihre Positionen eigentlich an extrem Rechte sind. Tote Hosen-Frontmann Campino zitierte vor Jahren bei Anne Will die politische Abstandsregel seiner Großmutter: „Wer zu lange neben Scheiße steht, fängt irgendwann selbst an zu stinken.“ Ein guter Rat, der leicht zu beherzigen ist.

Für alle anderen gilt: Wer das Gelingen von Megaverschwörungen in einem Land für möglich hält, in dem nicht mal mehr Flughäfen, Bahnhöfe, Rheinbrücken und Schauspielhäuser pünktlich und zum veranschlagten Preis fertiggestellt werden, sollte sich ernsthaft fragen, ob das noch als „diffuse Angst“ durchgeht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich ist Misstrauen gegen staatliche Grundrechtseingriffe prinzipiell angebracht! Losungen aber, wie: „Gib Gates keine Chance“ verdichten nur vulgäre antikapitalistische und antisemitische Ressentiments. Was sich im Flüchtlingssommer 2015 im milliardenschweren Philanthropen George Soros personalisierte, personalisiert sich nun im milliardenschweren Philanthropen Bill Gates: Der geheime Strippenzieher hinter dem verhassten Globalismus. Wäre das alles nicht so abgeschmackt und gefährlich, man müsste fragen: Geht’s eigentlich noch kitschiger?

Womit wir bei der AfD wären: Deren Versuch, sich als Corona-Protest-Avantgarde an die Spitze „der Bewegung“ zu stellen, indem sie die Corona-Auflagen als „diktatorisch“ denunzierte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ausgerechnet die AfD, die im Verhältnis von Staat und Individuum letzterem die Rolle als Untertan zuweist, verweigert dem Staat im Angesicht einer tödlichen Pandemie die Unterordnung. Darum ist es eine der wenigen schönen Corona-Nebenwirkungen, dass Corona sich für die Nationale Alternative zum Debakel entwickelte. Laut Umfragen hat die Partei etwa ein Drittel Wähler eingebüßt. Der mit Ressentiments geschlagene Kleinbürger krakeelt zwar gern herum. Wenn es aber um die eigene Gesundheit geht, hört die Gaudi auf, und man vertraut lieber „denen da oben“.


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Bernhard Krebs

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