Wer bei MAD-Festival das englische „mad“ spontan und richtigerweise mit verrückt und durchgeknallt übersetzt, liegt dennoch falsch, denn hier steht es für movement & art development. Doch so falsch ist es dann doch wieder nicht, denn die Beiträge der choreografischen Newcomer sind so crazy, so überraschend ver–rückt im positiven Sinn, dass man über diese Ideen-Vielfalt nur staunen kann. Völlig durchgeknallt scheint auf den ersten Blick Regina Rossis Samba-Performance, doch ihr Anliegen ist ernst. Wie hinter einer Frischhaltefolie variiert das Tänzer-Duo Susanne Grau und Lisa Kirsch zeitgenössische Tanztechnik im durchsichtigen Regencape. Die Performer Tim Behren und Florian Patschovsky verbinden Tanz und Akrobatik. Sie verrücken die Dimensionen und hängen mal an der Decke, mal an der Wand oder stehen dem Partner auf der Schulter – begleitet von den ahhs und ohhs des Publikums. Bei der „lecture performance“ von Gabriela Tarcha und Judith Ouwens muss dann auch das Publikum mit ran und Begriffspaare in Beziehung zum Tanz setzen. Minimalistisch wird es bei Ursula Nill mit mathematisch abgezirkelten Bewegungen und Tanzwegen. Und die Story von Kater Vagabundo erzählt die Performerin Fernanda Carvalho Lima bei ihrer Reise durch die Zeit anhand von Erinnerungsstücken.
Aus fünfzehn Bewerbungen zum Festival haben die beiden künstlerischen Leiterinnen Barbara Fuchs und Sonja Franken sechs einmalige, unvergleichbare Konzepte ausgewählt, die innerhalb einer Woche in der Wachsfabrik realisiert und bearbeitet und anschließend beim MAD-Festival aufgeführt wurden.
Um sich mit der Frauenrolle in Brasilien auseinander zu setzen, schlüpft die Performerin Regina Rossi in die Erwartung der Latino-Lover, die eine Frau gern mögen wie ein Aufziehpüppchen, immer lächelnd, ständig im Sambaschritt. Klischee oder Faktum. Egal. Rossi übersteigert das Ganze in ihrer Solo-Performance „andamento variable“. Grell geschminkt, im hautfarbenen Trikot mit glänzendem Schoß repetiert sie ununterbrochen den immer gleichen Sambaschritt. Wie bei der Kunstreiterin in Franz Kafkas Parabel „Auf der Galerie“ gibt es kein Halten, die Percussion treibt sie voran. Sie schreit, erzählt, der Körper hängt oder streckt sich, Ausbruchversuche. Erst als sie die Schuhe abwirft, findet das ewig lächelnde, tanzende Girl wieder zu sich selbst. Phantastisch, wie Regina Rossi mit dieser Übersteigerung ins Absurd-Komische den Machismo lateinamerikanischer Prägung sich selbst entlarven lässt.
Leise wird es bei „Recherche # 1“, dem Tanzstück von und mit Ursula Nill. Auch sie repetiert ununterbrochen nur eine (Fort-)Bewegung: ein leises, fast meditatives Heben und Senken des Körpers aus der Kniehocke. Zum hypnotischen Sog der Musik Dropsonde von Biosphere zelebriert sie eine heute ungewohnte Innerlichkeit des Körpers. Auf ganz neuartige Weise arbeitet die Choreografin dabei mit den Elementen des minimal dance: die Bewegung wird zugunsten einer Aussage reduziert. Bei Nill ist es eine Art Suche: nach der angemessenen Bewegung, nach sich selbst als Künstlerin. Ihre Bewegungen sind einfach und klar und nicht larmoyant überfrachtet. Die dabei entstehenden Körperbilder erinnern gelegentlich an Xavier la Roi´s Klassiker „Self-Unfinished“. „Recherche # 1“ ist ein sehr persönliches, fast intimes Tanzstück. Die Tänzerin Ursula Nill ist wohl eine der interessantesten Entdeckungen des diesjährigen MAD-Festivals.
Erstaunlich, wie allen Performern und Tänzern die kunstvolle Abstraktion ihrer konkreten Anliegen gelingt und sich vermittelt. Alle sind hervorragend qualifiziert, haben Hochschulen erfolgreich absolviert, treten jetzt erstmals hinaus auf die Bühne, um sich dem Publikum und der Tanzkritik zu stellen. Es ist eine Generation von Künstlern, die neue tänzerische Wege geht und dabei auch zur ästhetischen Herausforderung wird.
Mit seinen sechs Beiträgen war das kleine MAD-Festival breiter aufgestellt als manches andere Tanzfestival. Völlig unverständlich, dass diese Nachwuchs-Veranstaltung nicht zusätzlich vom Kulturamt der Stadt Köln gefördert wurde, sondern sich aus Sponsoren- und Eigenmitteln finanzieren musste. Von Performance bis Tanztheater, von zeitgenössischem Tanz über Kontaktimprovisation und Tanzakrobatik bis hin zu konzeptuellem Tanz war von allem etwas dabei. Kaum ein Stück blieb durchgängig bei einer Form, sondern pickte sich aus dem zeitgenössischen Stil- und Formenspektrum das heraus, was passte und was dem inhaltlichen Anliegen entsprach. Das mögen manche für eklektizistisch halten, doch solche Begriffe zählen heute nicht mehr. Hier zeigt sich eine ganz neue Tendenz: Diese Choreografen-Generation verschreibt sich nicht mehr nur einem Stil. Alles hat seine Berechtigung, jede Stilrichtung, Tanz- und Bewegungsform. Jedes lässt sich mit jedem vermischen. Und wenn etwas fehlt in dieser Angebotspalette – dann wird es halt erfunden.
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