2020 – ein Jahr in dem alle kollektiven Ausführungsformen des Tanzes betroffen und zum Pausieren gezwungen sind. Ruhe findet man da, wo sonst die Tanzschritte auf den Boden prasseln. Die Türen von Theatern und Tanzschulen bleiben geschlossen, die Bühne bleibt leer.
Das Moovy Tanzfilmfestival durfte dennoch vom 24. bis 26. Juli entgegen aller Befürchtungen stattfinden. In kleiner und angepasster Form wurde die Leinwand des Filmforums NRW mit kurzen und langen Tanzfilmen und Dokumentationen bespielt. In der Alten Feuerwache gab es zusätzlich die Möglichkeit, mit der VR-Brille in virtuelle Tanzfilmen abzutauchen.
Nachdenklich, bedrückend, düster und unheimlich sind viele der Stücke, die von Ágota Harmati und Loránd János ausgewählt wurden. Loránd kann dieses Jahr persönlich nicht anwesend sein, da er sich in Barcelona in Quarantäne befindet. So ist es Ágota, die am 24. Juli das Festival eröffnet. Der Saal ist auf Lücke ausverkauft. Man trägt Masken und setzt sich nur auf die mit Punkten markierten Sitzplätze.
Kurzfilme zwischen Voguing, Tragik und Horror
Der Tag beginnt mit einem verspielten, leichten Kurzfilm „4me“, aus Israel, gefolgt von der deutschen Produktion „Luca (m / f / x)“, die sich dem „genderfluiden“ Schauspieler und Tänzer Luca Hennig widmet, dessen Geschichte als Sonderling Hannah Schwaiger und Ricarda Funnemann als ihre erste dokumentarische Arbeit vorlegen. Nach der Vorführung erzählen sie, dass alles durch einen Instagram-Kontakt zustande gekommen sei: Man traf sich zum Shooting und schnell war klar, dass daraus mehr werden musste. Es entstand ein zartes, kraftvolles und ästhetisches Portrait über einen Menschen, der an der Härte der anderen wächst und einfach nur „wirken, leben, arbeiten“ will, ohne gelabelt zu werden.
Es folgen Kurzfilme aus den Niederlanden, Hong Kong, Australien, Schweden, Großbritannien und Spanien. „Henk“ zeigt einen herrlich chaotischen Tanz, der entsteht, als eine Frau ins Leben eines verschrobenen Exzentrikers spaziert. In seinem wohldurchdachten Lebensraum wirbelt sie alles gut durch. Es kommt zu Momenten der für beide ungewohnten Nähe, die sich in der nächsten Sekunde in kunstvolle Gebärden entwirrt. Man spürt durch die Leinwand hindurch die Gefühle, die der Kontakt mit einem unbekannten Wesen im eigenen Tanzbereich stets mit sich bringt. Ein vertanztes First Date.
Herausragend an diesem Tag ist „Washed“ von Daphna Mero aus Israel. Bilder und Soundkomposition vermitteln dem Zuschauer eine (be-)drückende Stimmung, und den /Dampf in einer großen, düsteren Wäscherei-Fabrik spürt man fast im Gesicht. Alles sollte hier sauber und akkurat sein, aber dann ist da Blut. Eine junge Frau versucht den Erinnerungen an eine Vergewaltigung zu entgehen. Diese Vergewaltigung wird herausragend indirekt und gleichzeitig kraftvoll visualisiert. Man kann ihr Trauma spüren, als sie wie benommen die große Fabrik verlassen will, aber doch stehen bleibt – im Trauma stecken bleibt.
Mit „My House Is Ninja“ von Guillaume Thomas wird dem Voguing verdient Raum gegeben, es ist einer der eher fröhlichen und expressiven Beiträge dieses Abends. Voguing hat als Tanzstil und Bewegung der schwulen Community des New York der 1980er begonnen und seither konstant mehr Aufmerksamkeit generiert. Diese gipfelt seit 2019 in Sendeformaten wie „Pose“. Drücke dich selber aus, sei wirklich du selbst und feiere dich. Fast drei Dekaden nachdem Willi Ninja, Begründer des Houses of Ninja, verkündete: „Ich will Voguing nicht nur im Film ‚Paris is Burning‘ sehen, sondern in das echte Paris tragen, und das echte Paris damit in Brand stecken“, wird sein Traum wahr. Die Pariser Voguing-Szene blüht und das House of Ninja sorgt für das Fortbestehen von Willis Erbe.
„Bailaora“ unter der Regie von Rubin Stein ist zusammen mit „Sisters“ von Daphne Lucker ein Beitrag, in dem Kinder im Fokus stehen. In „Sisters“ choreografiert Emma Evelein drei Schwestern, die in einer zerrütteten Familie aufwachsen. Ihr Zusammenhalt garantiert ihr Überleben. So zieht die eine der anderen die blutige Scherbe aus dem Fuß. Doch kommt die Frage auf, ob ihre innige Beziehung stark genug ist, um in dieser düsteren Umgebung zu bestehen. Unfassbar düster inszeniert ist auch „Bailaora“, der uns in eine Kriegsszene führt, in der überall tote Körper am Boden liegen: Nosferatu meets Counter-Strike. Eine Truppe Soldaten geht durchs gespenstische Gelände, das nach einem Massenmord wie verflucht wirkt. Der Kirchturm spielt eine trübe Melodie. In einer Kirche findet die Truppe ein verwundetes Kind, das sein Augenlicht verloren hat und wie besessen tanzt, um die anderen Kinder, die sich dort versteckt haben, zu schützen. Ist alles nur ein Traum? Was ist real? Beide Filme stellen sehr gut die Problematiken dar, in der sich viele Kinder befinden und die dennoch, von einem unbändigen und mutigen Überlebenswillen getrieben, überleben.
Viele der Beiträge sind wie ein schwerer, aber guter Wein. Ein bisschen Horror, an der Seite realer Tragik. Passend zum Jahr 2020. Eat it & Bon Appetit.
Ein Frau in Auschwitz und Massen in Bewegung
Der Samstag nimmt uns zunächst mit der „Die Euphorie des Seins“ (Ungarn 2018) in den Arm. Es ist die Umarmung der ungarischen Jüdin Éva Fahidi. Sie war 18, als man sie nach Auschwitz deportierte, wo ihre ganze Familie ermordet wurde. „Ich habe meine Mutter gesehen, als sie begriffen hat, das sie sterben wird“, sagt Éva und ihr Blick driftet vom Klaren ins Ferne. Mehr als 70 Jahre später, im Alter von 90 Jahren, verpackt sie ihre Erlebnisse in ein Theaterstück. Der Dokumentarfilm begleitet die Filmemacherin und Choreografin Réka Szabó aus Ungarn und zeigt den Entstehungsprozess.
In der Eröffnungsszene sieht man Éva beim Frisör. Den Lidstrich hat sie sich ebenso wie die Augenbrauen tätowieren lassen. Sie hat bei den anderen Alten gesehen, dass sie abrutschen und sich das Gesicht verschmieren. „Ich habe mich immer als volle Frau gefühlt. Niemals wollte ich ein Mann sein“, sagt sie mit klaren, großen Augen. In Auschwitz hat man ihr den Schädel rasiert. So lang wie zuvor wurden ihre Haare nie mehr. Auf die Frage, ob die Wärter sich an all den nackten, hilflosen Frauen bedient hätten, erwidert sie mit wachsendem Nachdruck: „In Auschwitz kann man keine Frau sein. Dreckig, stinkend, verschimmelt, das will niemand. Nein. Alle sind am Sterben.“ Doch Eva überlebt und auch ihr Frausein überlebt. Sie vermisst ihren jungen Körper. „Nichts bereitet dich darauf vor, dass er vergeht.“ Die charismatische Frau schafft es mit 90 Jahren mit dem Theaterstück auf Tournee zu gehen, um ihre Geschichte zu erzählen. „Das Trauma, es hat keinen Sinn darüber nachzudenken. Du kommst immer wieder an dieselben Stellen zurück in Gedanken.“
Der zweite Teil des Tages widmet sich dem Phänomen der Massenchoreografien. In einem Jahr, in dem Versammlungen nur eingeschränkt stattfinden können und Isolation verordnet wird, erscheinen die Beiträge ungewohnt. „Ach ja, damals fühlte es sich wirklich so an, verschwitzt und hyper-euphorisch auf dem Festival“, sagt Iliana, Besucherin des Festivals, als sie die Bilder von „Cultes“ (F 2019, R: (La)Horde) sieht. „Kann ich mir gerade gar nicht mehr vorstellen so mit anderen, fremden Menschen zu sein.“ Aufgenommen wurde der Kurzfilm auf einem 40.000 Besucher starken Festival. Der Film stellt die Frage, ob es möglich ist in einer so konsumorientierten Welt, in der Besitz nahezu heilig ist, so etwas wie eine spirituelle Erfahrung zu haben? Zwischen Wahn und Wurstbude, zwischen Ekstase und Erschöpfung fängt „Cultes“ genau diese Momente ein, wo wir Menschen uns im Rausch der Musik und der Energie der Masse mit etwas anderem verbunden fühlen.
Polyrhythmische Fusionen
Der letzte Tag des Moovy-Festivals schlägt nicht mehr so sehr die dunklen Töne an und möchte die Zuschauer wohl eher leichtfüßig entlassen. Als Einstieg sehen wir die Dozenten des Tanzhaus NRW in Düsseldorf isoliert zu Hause tanzen. „Tanz-zu-Haus-nrw“ von Dozentin Nora Pfahl ist ein klassisches Zeitdokument, das zeigt wie Tanzlehrer die Pandemie verbringen.
In „Draw a Line“ zeigt Benedict Mirow wie Richard Siegal, der seit 2019 Artist in Residence am Schauspiel Köln ist, seine Kompanie, das Ballet of Difference aufbaut. Siegal gilt als experimentierfreudig und sprengt mit seiner Arbeit regelmäßig die Grenzen des klassischen Tanzes. Seine Gruppe wird als eine der besten Kompanien gefeiert. Die Dokumentation gibt uns Einblick, warum dies so ist und wie Siegal mit seinem Talent das Potential seiner Tänzer befruchtet. Der Film spielt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Afrika. Dort transformiert Siegal sein Stück in der offenen Zusammenarbeit mit afrikanischen Musikern und Tänzern. Das passt zu den die Gesellschaft transformierenden Kräften im Corona-Jahr.
Man sieht eine gemeinsame, unerschrockene Transformation der Tänzer unter der mitreißenden Kraft der elektronischen Musik, in Austausch mit der Energie der Afro-Rhythmen. Siegal formt, bricht, formt und bricht wieder. Dabei gibt er seinen Tänzern etwas ganz Besonderes: Freiheit. „The freedom to look unique“ ,sagt eine der Tänzerinnen fast schon gerührt. „That´s the best!“ Und Segal selber: „We all have the power to belong to the people that decide to own it (the power). We are in the position.“ Er spricht von der Position die Kraft zu haben, Veränderung und Heilung für unseren Planeten zu bringen. „We can repair the world with dance.“
So ist „Draw a Line“ ein kraftvoller Film über die Früchte künstlerischer Freiheit, die Kraft der Musik und das Potential der Tänzer, dem Publikum etwas Transformierendes anzureichen, aber auch über die Verletzlichkeit unserer Körper, die Härte des Entstehungsprozesses eines Tanzstücks und am Ende die überirdisch-schöne Erscheinungsform des Tanzes in so verschiedenen Körpern. Abschließend war ein weiteres Kurzfilmprogramm zu sehen.
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