So wie die Augen von Bodo sehen heutzutage die Augen der Jungs aus, und nicht nur ihre: Die digitale Welt macht uns alle zu Glotzern. Die Pupillen erstarrt, die Gehirnströme schalten sich auf ein abgeflachtes Level herunter. Man muss nicht in die graue Gehirnmasse hineinschauen können, um neurologische Zusammenhänge zu beobachten. Nikolaus Heidelbach illustriert unsere Gegenwart, ganz im Sinne des lateinischen Begriffs illustrare, der das durchleuchten der Wirklichkeit meint. Bodo und seine 25 Kumpane erzählen uns etwas über den Zustand des Kindseins in unseren Tagen. Von Arno bis Zorro geht es durch das Alphabet, immer mit der Frage im Nacken: „Was machen die Jungs heute?“ Und es gibt ein Pendant.
Denn wollten wir nicht immer schon wissen, was die Mädchen so machen? Vor 20 Jahren stellte Nikolaus Heidelbach diese Frage, um sie dann im Stil seiner luziden Illustrationen zu beantworten, in denen sich Realismus ganz selbstverständlich mit Phantastik kreuzt. Vier Jahre später wurde damals die Frage nach den Jungen angeschlossen. Beide Bilderbücher waren bald vergriffen, wurden neu aufgelegt und blieben so erfolgreich, dass sich der Kölner Meister der Illustration nun dazu hinreißen ließ, das Thema wieder aufzugreifen und die Bände „Was machen die Jungs heute?“ und „Was machen die Mädchen heute?“ von Anneliese bis Zoë durchzubuchstabieren.
Damals trugen die Mädchen Latzhosen, heute sind es Jeans-Shorts. Auch als es noch keine Casting-Shows gab, wollten die Mädchen schon Karriere machen – damals mit dem Kaffeewärmer auf dem Kopf sollte es der Papst sein, heute will die blonde Qually Top-Model werden. Die Jungs sind derweil mit dem Rollbrett unterwegs. Heidelbach arbeitet delikat wie immer in die spektakuläre Bildkulisse die taktilen Erlebnisse ein, die uns zuteil werden, wenn wir etwa ein Stück Samt, eine Bodenfliese oder blitzenden Stacheldraht berühren. Prickelnd auch, sich vorzustellen, was Wiglaf spürt, während er barfuß über ein verdorrtes Rasenstück geht. Die Bilder stecken voller körperlicher Erfahrungen, die dem Humor erst so recht seine Tiefe verleihen.
Auch wenn die Kids in ihren Wollklamotten vielleicht nicht immer up to date gekleidet sind, die Botschaft der vierteiligen Serie tritt in den beiden neuen Bänden noch deutlicher zutage. Im Grunde unterscheiden sich Jungen und Mädchen nämlich gar nicht so sehr voneinander, wie es auf den ersten Blick scheint. Kinder machen halt gerne Unsinn, versehen ein Buch mit Zähnen, jagen eine Schnecke mit dem Luftgewehr, und es ist ihnen auch noch peinlich, die Badehose beim Köpper im Schwimmbad zu verlieren. Vor glitschigen Tieren fürchten sich nicht nur die Bilderbuch-Protagonisten, sondern auch die Leser. Deren Denken und Fühlen versteht Heidelbach immer wieder geschickt in das Geschehen auf den Bildern einzubeziehen.
Also alles in Butter, nur vielleicht nicht für die Erwachsenen, weil für Heidelbach, den genauen Beobachter, Kinder keine putzigen Wesen sind. Ihr Forschergeist und ihre Fantasie kennen ebenso wenig eine Grenze, wie ihre Brutalität. Es gehört eben auch Kaltschnäuzigkeit dazu, die Dinge konsequent bis an ihr Ende zu denken. Heidelbach vermag das, und vielleicht kommt man gerade deshalb mit dem Staunen über die Schönheit und die Unverschämtheit dieser Bilder nie an ein Ende.
Nikolaus Heidelbach: „Was machen die Mädchen heute?“ & „Was machen die Jungs heute?“ | Beltz & Gelberg | je 62 S. | je 16,95 €
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