Wer denkt schon an Katharina Sieverding, wenn er die A43 in Richtung Bonn fährt und das Kreuz Wuppertal erreicht? Ich. Nicht, weil ich mir ihre Drei-Jahrzehnte-Retro in der Bundeskunsthalle ansehen werde, nein, weil ich – gefühlt minutenlang – an einer schwarzrotgoldenen Lärmschutzwand entlang fahre und mir bei der Künstlerin immer zuerst ihre politische Arbeit einfällt. Dann erst kommen die mächtigen Portraitserien, die Röntgenbilder, die Verfremdung, die immer perfekter werdende Kingsize-Fotografie. „Deutschland wird deutscher“, das war eine Plakataktion, die 1993 zwar Aufsehen, aber nur wenig Aufstand hervorrief. Die vermummte Frau, deren Kopf von Wurfmessern gerahmt wurde, nahm man zur Kenntnis, das war´s. Noch war Wiedervereinigung, man diskutierte schon Asylpolitik, aber Rostock-Lichtenhagen war schon wieder weit weg und radikalislamischer Terror noch Zukunftsmusik. Das Plakat hängt wieder. In Köln, Bonn, in der U-Bahnstation zur Ausstellung. Heute hat es nach einem Vierteljahrhundert eine fast neuartige Wirkung und irgendwie ist das auch erschreckend, denn das Foto, auf dem sie natürlich selbst zu sehen ist, entstand in den 1970er Jahren im Ruhrgebiet.
Diesen politischen Missionarsgeist hat sie bis heute konserviert, wenn man sich ihre aktuellen Arbeiten anschaut. Bei „Global desire“ (2017) ist „das Böse“ wieder großformatig präsent, Amazon, Kim Jong-un, Panzer, die Slums überlagern. Das Werk der 72-jährigen Fotokünstlerin Katharina Sieverding bleibt zeitkritisch und dennoch hochartifiziell, manchmal sogar haptisch etwas zu schick designed. Die Retrospektive „Kunst und Kapital" in der Bonner Bundeskunsthalle ist mega-umfangreich, sehr gut kuratiert und zeigt ihre Arbeiten aus den Jahren 1967 bis 2017. Früh, als sie noch „Die Sonne um Mitternacht schauen“ (1973) wollte oder als „Nachtmensch“ (1982) die Düsseldorfer Kneipenszene unsicher machte (Motorkamera 1973-74), orientierte sie sich am Olymp der Fotografie und deren Protagonisten, bei der Serie „Transformer“ (1973-74) sicher auch an der Warholschen Ästhetik. Heute ist sie im Olymp selbst längst (zu Recht) angekommen, was wohl auch die Schar an Kunst-Celebrities am Eröffnungstag belegen.
Die absolut sehenswerte Ausstellung selbst ist ein Musterbeispiel dafür, dass Monumentalität nicht notwendigerweise in Monstrosität mündet. Wer erst einmal die mehrdeutige Kleinteiligkeit der Kristallisationsbilder (1-5 und 7-11, 1992) entdeckt hat, kann sich auf dem Wandtableau verlieren und sogar „Pusteblumen“ (eine Besucherin) entdecken. „Kein Bild ist denkbar ohne die Gesamtheit aller Bilder, die in der Welt sind“ (Katharina Sieverding, 2015). Das in der Ausstellung transportierte Zitat ist gewagt, denn es scheint die Manipulierbarkeit in diesem Medium zu verleugnen. Und bevor die Ehrfurcht vor den gebürsteten und geschraubten Stahlrahmen überhandnimmt, noch einmal switchen zwischen den projizierten, mal goldenen, mal unscharfen Gesichtern im „Projected Data Images“-Raum (2016) und dem schemenhaften B52-Bomber auf „Die letzten Knöpfe sind gedrückt“ (1983). Wolf Vostell ließ Jahre vorher von diesem Flugzeug Lippenstifte auf Vietnam regnen. Das hätte zu Katharina Sieverding auch gepasst.
„Katharina Sieverding – Kunst und Kapital. Werke von 1967 bis 2017“ | bis 16.7. | Bundeskunsthalle Bonn | 0228 917 12 00
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