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Letzte Sitzung der Lesegruppe mit Gast Alicja Rogalska (l.)
Foto: Rebecca Ramlow

Mikro- und makrokosmische Krise

20. Dezember 2017

Lesegruppe der Pluriversale VII: Gruppentherapie gegen die Hegemonie – Spezial 12/17

Der urban anmutende Raum im Academyspace ist voll mit wissenshungrigen, aber auch politisch motivierten Menschen, die sich zum letzten Mal in diesem Jahr zu einer Lesegruppe zusammenschließen, um Texte zu lesen und Filmen zu sehen, sich auszutauschen und zu debattieren. Von unten. Gegen die Hegemonie. Einige sitzen sogar – tatsächlich und symbolisch – auf Kissen auf dem Boden, so groß ist der Andrang. Seminarleiterin und Kuratorin Aneta Rostkowska begrüßt die Teilnehmer, die sich einmal im Monat treffen, mit den Worten: „Welcome to group therapy“, wohl auch eine ironische Anspielung auf die Tatsache, dass der Etat für die Akademie der Künste der Welt leider im nächsten Jahr drastisch gekürzt wurde. Dank Entscheidung des Stadtrates. Somit ist „die Krise“ als Thema der Reading Group zynischerweise sowohl mikro- als auch makrokosmisch existent.

„Neoliberalismus“ ist das Thema des Abends. Sowie die zentrale Fragestellung: „Why are they (= die kapitalistischen Eliten dieser Welt) winning?“ wie auch der gleichnamige anklagende Titel des dritten Kapitels eines in dieser Runde zitierten Buches von Nick Srnicek and Alex Williams lautet: „Inventing the Future. Postcapitalism and a World Without Work“. Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman schreibt in jenem Kapitel „Why Are They Winning? The Making of Neoliberal Hegenomy“: „Die einst spezifischen Interessen von Neoliberalen sind inzwischen so verallgemeinert, so verinnerlicht worden, dass diese nun alles andere dominieren, hegemonial geworden sind.“ Längst ist Neoliberalismus nicht mehr nur eine theoretische Idee eines Friedrich August von Hayeks oder John Maynard Keynes‘, sondern ein universeller Habitus. Deshalb muss sich jeder auch an die eigene Nase fassen, wenn es darum geht, wer der „Schuldige“ am System ist: weil wir längst alle Teil eben jenes geworden sind. Ob wir es wollen oder nicht.

Die sich aufdrängende Frage lautet: Gibt es Alternativen – und damit ist nicht die AfD gemeint – zu der sich tief in den Köpfen, nicht nur der Reichen und Mächtigen dieser Welt, sondern auch jener der restlichen Gesellschaft verankerten Überzeugung von blindem Kapitalismus und Neoliberalismus? Einem stetig exzessiver werdenden, außer Kontrolle zu geraten scheinenden Markt, der ohne Rücksicht auf Verluste  immer mehr Menschen auf dem Gewissen hat, die Löhne konstant nach unten fallen lässt, von Ausbeutung lebt und offensichtlich in einer tiefen Krise steckt? Wie würden diese aussehen? Und: Was können Linke tun, um ihre Gegenidee zu einer solch egomanischen, sich selbst zerstörenden kapitalistischen Wirtschaft vernünftig zu entwickeln und diese tatsächlich auch umzusetzen? Schließlich kommen die Teilnehmer zu dem Ergebnis, dass eine Idee an sich zwar lobenswert sei, aber noch lange nicht ausreiche. Man müsse ein konkretes Konzept entwickeln und dieses umsetzen, möglicherweise mit einem gut organisierten Think Tank.

Gibt es noch andere gesellschaftliche Optionen in der Zukunft, jenseits des Mainstream-Kapitalismus? Trägt der erste Teil der Lesegruppe eher zu theoretischem Wissen bei, ist der zweite erfrischend praktisch und liefert tatsächliche konkrete Umsetzungen und Ansätze: Hier präsentiert die Künstlerin Alicja Rogalska äußerst spannende und experimentelle Filmprojekte: „Dreamed Revolution“ (2014-2015) und „The Ones Who Walk Away“ (2017). Zwei sehr mutige und drastische Zukunftsmodelle. Die Werke der ursprünglich aus Polen stammenden, heute zwischen London und Warschau pendelnden Video-Künstlerin spielen häufig mit verschiedenen politischen Möglichkeiten und suchen nach neuen futuristischen Gesellschaftsideen.

In „Dreamed Revolution“ wagt Rogalska sich an das Thema „Hypnose als gesellschaftliche Möglichkeit“ heran: In Trance taumelnde Menschen auf einer Bühne, die, zu beklemmender Musik, unter Hypnose wankend und Augenbinden tragend, zu einer neuen Bewusstseinsebene gelangen wollen, bis sie schließlich auf der Erde liegen. Aufgenommen wurde das Video während eines Workshops im Teatr Nowy im polnischen Łódź. Die teilnehmenden Aktivisten wurden von einem Hypnotiseur in Trance versetzt, um so durch mögliche soziale Zukunftsszenarien hindurchzuwandeln. In einem teils sozialrealistisch, teils avantgardistisch anmutenden Modus wird Hypnose hier nicht nur als esoterisches Meditationsmittel benutzt, sondern auch, um antrainierte Denkblockaden zu lockern sowie das Blickfeld der Wahrnehmung zu vergrößern. So wirkt die Trance nicht nur auf psychischer und kognitiver, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Der erst kürzlich produzierte Film „The Ones Who Walk Away“ ist in der Zukunft angesiedelt. À la „Brave New World“ laufen Menschen in jenem roboterartig in einem Lager in Barcelona durch die Gegend. Ihre Emotionen sind nicht mehr ihre eigenen, sondern werden per Fernbedienung gesteuert. Die Bürger haben ihr eigenes Ich verloren. Höchste Zeit für das revolutionäre Lager „Libertad“ einzuschreiten, die ferngesteuerte Bevölkerung zu befreien und die Souveränität des Volkes wieder herzustellen. Ein futuristisches, dystopisches Schaustück, das politische Möglichkeiten aufzeigt und den Begriff der Demokratie kritisch untersucht. Interessant an beiden Filmen ist die jeweilige Perspektive: die teilnehmende, aber nicht kommentierende Kamera, die das Geschehen um sie herum aufsaugt, aber niemals eingreift. Auch sind die Teilnehmer keine echten Schauspieler, sondern normale Menschen, die in gesellschaftliche Rollen hineinschlüpfen. Die Lesegruppe „Redefining The Possible“: Die diesjährig letzte Bildungsoffensive gegen die Hegemonie hat neue spannende Möglichkeiten und Anstöße geliefert, die es über Weihnachten – statt Geschenke zu kaufen – zu überdenken gilt.

Rebecca Ramlow

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