Viele Menschen vereinsamen im Alter, verbringen zu 90 Prozent ihrer verbleibenden Lebenszeit in ihrer Wohnung. Kaum jemand besucht sie. Gesundheitlich werden sie zwar häufig noch betreut, doch emotional und sozial verkümmern sie oft. Einsamkeit kann sich sogar auf die Gesundheit auswirken. Das muss aber nicht so sein, wie das bereits seit zehn Jahren existierende Projekt „Wohnen für Hilfe“ in Köln zeigt. Das Prinzip bei diesem integrativen Wohnpatenprojekt ist, dass Senioren und Studierende durch gegenseitiges Geben und Nehmen profitieren. Ältere Menschen bieten dabei Studenten die Möglichkeit, kostenlos bei ihnen zu wohnen. Der Student unterstützt dafür im Gegenzug diese Person im Alltag bei Haushaltstätigkeiten. Eigentlich ein simples, aber auch kluges Konzept, schaut man sich beispielsweise den Kölner Wohnungsmarkt und die horrenden Wuchermietpreise in der Domstadt an.
Die Idee stammt aus Großbritannien und ist inzwischen nach Deutschland übergeschwappt. Die Faustregel lautet: Pro Quadratmeter überlassenem Wohnraum soll der Student eine Stunde im Monat in Hilfe investieren. Mittlerweile gibt es bei „Wohnen für Hilfe“, das ein Gemeinschaftsprojekt zwischen dem Wohnamt, der Uni Köln und der Kölner Seniorenvertretung ist, 600 teilnehmende Wohnpartnerschaften. Das Interesse wächst. Da soll nochmal jemand behaupten, ältere und jüngere Menschen könnten nichts miteinander anfangen. Die älteste Wohnpatin ist stramme 94, ihre studentische Mitbewohnerin könnte ihre Urenkelin sein. Während die eine sogar zwei Kriege erlebt hat, gehört die Andere zur Generation Y: Internet, Handy und Millenial.
„Zwischen den beiden Damen liegen Welten, und manchmal prallen diese auch aufeinander“, gibt Heilpädagogin Heike Bermond zu. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Köln hat das Projekt mit aufgebaut. Deshalb sei Kommunikation und Transparenz immens wichtig, um Konflikte zu vermeiden. Wer sich die eigenen vier Wände mit jemandem teilt, der zweimal so alt ist wie die eigenen Eltern, von denen er in der Pubertät bereits genervt war, oder doppelt so jung wie die eigene Tochter, die man zwischendurch auf den Mond schießen wollte, muss sich auf einen anderen Lebensstil und auf von den eigenen stark abweichende Verhaltensweisen gefasst machen. „Es gibt gute und schlechte Erfahrungen“, so Bermond, die nichts verallgemeinern oder schönreden möchte. „Eine Frau hat sich einmal beschwert, dass die Jüngere nie die Haustür abschloss. Es kam zum Streit. Eine von beiden zog irgendwann aus.“
Es gibt aber auch sehr rührende Geschichten und schöne Erlebnisse: Etwa jene von einer stark sehbeeinträchtigten Person, die zuvor durch ihr Manko nahezu von der Außenwelt abgeschieden war. Diese sagt, dass das Zusammenleben mit ihrer Mitbewohnerin ihr Leben sehr bereichert habe. Die beiden verstanden sich wunderbar, unternahmen zusammen zahlreiche Dinge. Die Bandbreite des Zusammenlebens ist groß und reicht von reinen Zweck-WGs, in denen die Bewohner, außer sich eine Küche oder ein Bad pragmatisch zu teilen, kaum etwas miteinander zu tun haben, über solche, die hin- und wieder etwas gemeinsam unternehmen, bis hin zu jenen, aus denen echte Freunde geworden sind. Nicht umsonst führen die Organisatoren zuvor „Bewerbungsgespräche“ durch, um zu sehen, wer dafür geeignet ist. Denn: Man muss schon tolerant sein, um in so einer Mehrgenerationen-WG zu leben. Aber wenn man es tut, erlebt man viel Bereicherndes. Vielleicht würde man andernfalls entweder einsam dem Lebensabend entgegenschauen oder in einer vermüllten Party-WG mit Gleichaltrigen und 20 Dosen Bier abhängen. Kaum aber würde man Generationen übergreifenden Kontakt pflegen. Denn wo tauschen wir uns denn aus? Auf der Straße? Im Supermarkt? Eher nicht. Wer weiß denn, was die ältere Dame nebenan denkt oder fühlt, was ihre Träume sind? Eines muss man jedoch wissen: Fragen von „Krankheit“ und „Tod“ sind sehr präsent. Dessen muss man sich bewusst sein. Nicht jeder kann damit umgehen.
Neben „Wohnen für Hilfe“ gibt es noch die Möglichkeit, als älterer Mensch in einer Senioren-WG mit Gleichaltrigen zu wohnen, statt im Altersheim sein Dasein zu fristen. In Köln-Bickendorf gibt es speziell für Demenzkranke, die selbstbestimmter wohnen möchten als im Heim, eine eigene WG, genannt „Zum Rosengärtchen“.
Wer nicht gleich die vier Wände teilen möchte, aber Jemanden regelmäßig besuchen oder helfen, für den bietet sich etwa das Freiwilligen-Projekt „Freunde alter Menschen“ an. In dieser rein ehrenamtlichen Initiative werden soziale Kontakte und Begegnungen zwischen älteren und jüngeren Menschen vermittelt, um ein Zeichen für einen anderen Umgang mit älteren Menschen zu setzen.
Eine der älteren Personen bei diesem Projekt ist Anne Blum: Da die 87-Jährige keine eigenen Kinder hat und ihr Mann vor neun Jahren verstarb, meldete sich die in hohem Alter noch Alleinlebende bei diesem „Experiment“, wie sie sagt, an, um ihren Lebensabend nicht alleine zu verbringen. Seither besuchen die Kölnerin unterschiedliche Menschen, um ihr im Alltag zu helfen. Darunter ein(e) Transsexuelle(r) sowie zwei junge Frauen; quasi eine Ersatzfamilie. „Ein schönes Erlebnis war, als eine Frau, die erst etwas verklemmt war, sich mir plötzlich öffnete. Das hat mich berührt“, sagt Blum, die die Wechselbesuche auch als psychosoziale Studie betrachtet. „Es gibt gute und skurrile Erfahrungen. In jedem Fall aber wird der Horizont erweitert“, sagt die ehemalige Betreiberin eines Single Clubs. Ins Heim möchte Blum nicht, die trotz hohen Alters und körperlicher Beschwerden ihren Humor und ihren Verstand offenbar nicht verloren hat: „Da meckern die Leute mir zu viel.“ Stattdessen überlegt sie, eventuell noch ein Buch zu verfassen zum Thema „Selbstwertgefühl“. „Denn damit steht und fällt alles im Leben“, so Blum.
Sonja Krüger besucht seit einem Jahr ältere Menschen. „Für mich ist es ein Geschenk,“ sagt die 20-Jährige, die selbst keine große Familie hat und sich immer schon für ältere Menschen und deren Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert interessierte. „Ich finde es super spannend, was jemand, der schon so lange lebt, zu erzählen weiß. Außerdem freue ich mich, wenn ich Anderen etwas Gutes tun kann“, so Krüger. „Am Meisten gefällt mir, wenn die alte Dame, die ich regelmäßig besuche, von Indonesien erzählt, wo sie einst lange gelebt hat. Dort muss es wunderschön für sie gewesen sein. Sie strahlt immer so, wenn sie darüber spricht.“
Ob WG mit einer 94-Jährigen oder Ersatzfamilie durch Wechselbesuche – eine Alternative zum tristen Wohnen im anonymen Heim ist es sicherlich. Vorausgesetzt man lässt sich darauf ein. Bei diesem Thema muss man sich aber auch an die eigene Nase fassen: Wieviele Berührungsängste hegen wir selber gegenüber dem Alter? Wieviel sind wir bereit, ältere Menschen zu integrieren, statt sie zu isolieren?
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