choices: Herr Teti, angenommen, ich möchte in meiner vertrauten Wohnung meinen Lebensabend verbringen: Worauf muss ich achten?
Andrea Teti: Das ist eine individuelle Frage, bei der bauliche, biografische und gesundheitliche Aspekte betrachtet werden müssen. Dennoch gibt es auch allgemeine Kriterien: Das eigenständige Verlassen und Betreten der Wohnung muss etwa gewährleistet sein, das ist das A und O. Auch die Lage ist entscheidend und sollte alltägliche Einkäufe und medizinische Versorgung ermöglichen, ohne auf Individualverkehr angewiesen zu sein – das ist vor allem in ländlichen Regionen ein kritischer Punkt. In der Wohnung selbst entstehen vor allem bei der Nutzung des Bads Probleme. Barrieren wie die Einstiegshöhe der Wanne, oder der Dusche können den Verbleib in der eigenen Wohnung unmöglich machen.
Welcher Wohnraum ist also altersgerecht?
Wohnen ist ein multidimensionales Geschehen, deswegen dürfen nicht nur bauliche Aspekte betrachtet werden, sondern auch das subjektive Wohnerleben und gesellschaftliche Teilhabe. Barrierefreiheit ist sicherlich der baulich wichtigste Aspekt, der in Europa durch DIN und ISO-Normen geregelt ist. Nach diesen dürfen nicht mehr als drei Stufen zum Wohnungseingang führen, innerhalb der Wohneinheit dürfen keine Stufen verbaut sein und es müssen ausreichend Bewegungsflächen vorhanden sein, damit sich auch ein Rollstuhl problemlos führen lässt. Deswegen kann es etwa schon an der Breite der Badezimmertür scheitern.
Gibt es Fördermaßnahmen für den Umbau der eigenen vier Wände?
Das ist ein wenig ernüchternd, es gibt nämlich nur sehr wenige. Nach dem Sozialgesetzbuch gibt es die Möglichkeit, das Wohnumfeld verbessernde Maßnahmen zu beantragen, wie etwa den Umbau des Bades oder die Begradigung von Türschwellen – aber nur, wenn eine anerkannte Pflegebedürftigkeit vorliegt, also wenn das Kind praktisch schon in den Brunnen gefallen ist. Wohnungs- oder Hausbesitzer sind außerdem gegenüber Mietern im Vorteil, weil sie bei der nationalen Förderbank KfW einen Kredit bis 50.000 Euro für Umbaumaßnahmen aufnehmen können. Mieter müssen die Kosten in der Regel selbst tragen. Wenn sie keine Vereinbarung mit dem Vermieter haben, sind sie außerdem verpflichtet, die Wohnung bei Auszug wieder in ihren Ursprungszustand zu versetzen.
Wie ist das Verhältnis von Pflegebedürftigen daheim, zu denen, die in einer betreuten Einrichtung leben?
Da hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten wenig getan. Im Jahr 1999 lebten knapp 70 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause oder bei Verwandten und 30 Prozent waren institutionalisiert. Heute sind es 73 Prozent, gegenüber 27 Prozent. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen wegen des demographischen Wandels in den vergangenen 17 Jahren um 40 Prozent auf etwa 3 Millionen angestiegen ist. Deswegen besteht nach wie vor ein starker Bedarf nach neuen Pflegeheimen. In der gesamten Altersgruppe über 65 Jahre ist das individuelle Wohnen mit 93 Prozent aber nach wie vor die präferierte Wohnform.
Welche Fragen spielen bei der der Entscheidung zwischen eigener Wohnung und Pflegeeinrichtung eine Rolle?
Leider ist diese spezifische Entscheidung kaum als solche zu betrachten. Die meisten schieben diese Überlegung von sich, bis die Pflegebedürftigkeit bereits eingetreten ist. Wenn die Betroffenen vor dieser Situation stehen, herrscht oft bereits enormer Zeitdruck und viele Angehörige und Ärzte sind in diesen Prozess involviert. Das führt dazu, dass es in den seltensten Fällen eine bewusste und reflektierte Entscheidung ist, sondern das Ergebnis eines Mangels an Alternativen, so dass dem Betroffenen im Grunde keine Wahl mehr bleibt. Darum sollte man dringend bereits anfangen, über die eigene Wohnsituation nachzudenken, bevor der Ernstfall eingetreten ist.
Wie hat sich die Wahrnehmung von Senioreneinrichtungen verändert – gerade bei Senioren selbst?
Das ist unter den Älteren sehr differenziert. Kritisch sind vor allem besser gebildete und wohlhabendere Senioren, die in der Regel auch ein hohes Maß an sozialer Unterstützung haben. Diejenigen aus ärmeren Schichten hingegen nehmen die Unterbringung meist als Schicksal hin – immerhin wird dort für einen gesorgt.
Welche Rolle spielt der private Wohnungsmarkt für Ältere?
Der Umzug in eine neue Wohnung ist auch im Alter eine sehr empfehlenswerte Entscheidung, die zum Erhalt von Autonomie und Lebensqualität beitragen kann. Die Wohnmobilität fällt im Alter jedoch dreimal geringer aus, als bei jüngeren Altersschichten. Umzüge von Personen über 60 Jahre haben einen Anteil von 6,3 Prozent an allen Umzügen, das ist als Randerscheinung zu bezeichnen. Andererseits ist nach Berechnungen des Sozioökonomischen Panels davon auszugehen, dass die Hälfte der heute über 55-jährigen in ihrem Leben noch einmal umziehen wird, bevor sie 75 werden.
Wie hoch ist denn der Anteil seniorengerechten Wohnraums am Gesamtmarkt?
Seniorengerechte Wohnungen sind leider Mangelware – nur 5,2 Prozent der Seniorenhaushalte sind wirklich barrierefrei, die übrigen weisen deutliche bis extreme Zugangseinschränkungen auf. Um den Bedarf an selbstbestimmten Wohnen zu decken, müssten nach Schätzungen der Verbände jährlich 100.000 altersgerechte Wohnungen geschaffen werden. Diese Anzahl lässt sich nicht allein durch Neubau oder Modernisierung sichern.
Sind gerade Senioren von steigenden Mieten betroffen?
Ja, vor allem, weil den Meisten nach dem Ende der Erwerbstätigkeit oder dem Versterben des Lebenspartners geringere finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Das Altern eröffnet aber auch neue Chancen. Durch den Auszug der Kinder wohnen viele Ältere in viel zu großen Wohnungen oder Häusern. Es gibt Projekte, die hier auf eine Art Häusertausch abzielen, so dass die Älteren ihre Wohnungen etwa an jüngere Familien abgeben können. Wenn so ungenutzte Wohnflächen gegen eine altersgerechte Ausstattung in einem neuen Zuhause eingetauscht werden können, lohnt sich das durchaus.
Welche anderen Formen seniorengerechten Wohnens gibt es?
Es gibt natürlich immer noch die klassische Kohabitation, also das Zusammenwohnen mit jüngeren Angehörigen, obwohl das immer seltener wird. Es gibt weiterhin das betreute Wohnen oder gemeinschaftliches Wohnen, etwa in Alten-WGs oder Siedlungsgemeinschaften. Wohngemeinschaften sind selbst im Fall einer gravierenden Pflegebedürftigkeit oder bei fortschreitender Demenz möglich.
Werden neue Konzepte entwickelt?
Inzwischen wird etwa auch bei städtischen Masterplänen Wert auf die altersgerechte Quartiersentwicklung gelegt. Es werden Vernetzungen mit lokalen Größen gefördert, etwa zwischen Seniorenbüros, Ärzten und Physiotherapeuten. Man versucht, die Engpässe in der medizinischen und pflegerischen Versorgung durch Vernetzung zu kompensieren. Der Fokus wird dabei weniger auf Leben in den eigenen vier Wänden, sondern mehr auf Leben im Quartier gelegt.
Welche Erfahrungen gibt es mit intergenerationellen Wohnprojekten?
Das ist ein tolles Thema, wurde bisher aber noch kaum erforscht. Das Interesse an solchen Projekten steigt stetig, eine bundesweiten Umfrage zufolge würden 31 Prozent der Befragten im Alter das gemeinschaftliche Wohnen einem Einpersonenhaushalt vorziehen. Auch ich persönlich habe diese Wohnform gewählt, seit 2013 bewohne ich ein selbstorganisiertes Mehrgenerationenhaus mit Freunden und Bekannten. Eine Quantifizierung des Themas ist aber wegen des Fehlens von verlässlichen Daten schwierig.
Wie berücksichtigt Wohnungsbau die demographische Entwicklung?
Ich habe nicht den Eindruck, dass in der Wohnungspolitik die alternde Gesellschaft wirklich berücksichtig wird. Man denkt scheinbar irgendwie, Alte haben schon ihre Wohnung, die haben nicht umzuziehen und damit glücklich zu sein. Ich finde das ein bißchen kurzsichtig, denn es gäbe durchaus Möglichkeiten, Bewegung in den Wohnraum zu bringen, so dass, wie schon angesprochen, große Wohnungen mit ungenutzten Wohnflächen für Familien frei werden könnten, wenn es ein größeres Angebot an altengerechten Wohnungen und Neubauten gäbe.
Wie wird der demographische Wandel die Städte verändern?
Unserer Städte werden sich deutlich verändern, allein dadurch, dass der steigenden Zahl von Hochaltrigen eine immer geringere Zahl von jungen Menschen gegenüber steht, die Pflegeaufgaben übernehmen können. In vielen Kommunen hat man aber bereits verstanden, wie wichtig diese Entwicklung sein wird und entwickelt Konzepte von starker nachbarschaftlicher Unterstützung. Konzepte wie Zeitbanken, partizipative Stadtplanung, Nachbarschaftshilfe und Sharing-Kultur, das sind alles Entwicklungen, die in der Zukunft helfen werden, Versorgungsengpässe in den Städten und auf dem Land zu kompensieren.
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