Bilder und Töne prasseln ungeordnet auf den Zuseher ein: rurale Impressionen aus Osteuropa mit Pferdefuhrwerk, alten Bäuerinnen und spielenden Kindern, Überreste und Denkmäler in Treblinka und Auschwitz, minutenlange Sexdarstellungen, Moskauer Straßenszenen, Wiener Zentralfriedhof, Checkpoint Charlie, Frau mit Spiegel in the middle of nowhere. Nicht zu vergessen den tanzenden Bär. Dazu Toncollagen aus Schlagern, Vorträge zu Kunstrezeption, „Guantanamera“ des kubanischen Dichters José Martí und anderes mehr. Vieles kann man so schnell gar nicht erfassen, vieles wirft Fragen auf.
Die Videonale.scope #4 zeigt Teile des 12-stündigen 16 mm-Mammutwerks „You Killed the Underground Film or The Real Meaning of Kunst bleibt ...bleibt...“ des Avantgardekünstlers Wilhelm Hein (76), das mit dem Experimentalfilmpreis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet wurde. 14 Jahre hat Hein daran gearbeitet, ist noch nicht fertig, wird nie fertig sein. Auf die Frage nach der Motivation antwortet er: „Ich bin nicht mit einer vorgefassten Idee herangegangen. Es entwickelt sich, ist nur als Gesamtwerk verstehbar. Die Bilder sind aus verschiedenen Zeiten und Quellen zu einer Collage zusammengefügt, mit inhaltlichen Bezügen.“ Manche sind erkennbar: Die Beschäftigung mit Sexualität, Osteuropa, NS-Zeit. „Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist für mich existenziell. Es geht darum, die Sichtweise nicht einzuengen. In Deutschland herrscht eine eindimensionale Darstellung der Geschichte. KZs werden heute wie Disneyland besucht.“ Hein kritisiert auch die Geschichtsverdrängung beim Thema Kommunismus, indem er Denkmäler von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zeigt. Mit dem Bild eines durchgestrichenen Straßenschilds protestiert er gegen die Umbenennung des an den russischen Schriftsteller erinnernden Majakowskiwegs in Berlin.
Warum aber explizite Sexszenen? Schon bei der Einführung mit Kurator Daniel Kothenschulte weist Hein auf die Prüderie und Zensur der 50er Jahre hin, wogegen die 68er-Bewegung protestierte. „Die Darstellung von Sexualität ist schwierig, weil man als Voyeur gilt. Heute können sich Kinder im Internet Pornos anschauen. Was macht das mit ihnen? Mir geht es um die Vielschichtigkeit, Komplexität, Kompliziertheit eines Charakters. Das beinhaltet auch Erotik und Gewalt.“ Und die Bilder aus Osteuropa? „Ich wollte die Armut der Menschen, der alten Frauen, Männer, Kinder zeigen.“ Hat sich die Gesellschaft und damit die Kunst seit seinen Anfängen vor 50 Jahren stark verändert? „Wir haben heute große Freiräume und Toleranz“, so der Experimentalfilmer. „Aber die Jungen müssen Karriere machen, um die Mieten zu bezahlen. Die Kernprobleme bleiben die gleichen. Die Welt ist immer noch kein Paradies geworden.“ Und fügt mit leuchtenden Augen hinzu: „Mein Vorbild ist Erich Fromm, der nie den Glauben an die Utopie verloren hat.“
Die Videonale.scope #4 präsentiert neben dem Opus Magnum von Wilhelm Hein auch Werke von Lutz Mommartz (73). Videonale-Leiterin Tasja Lauterbauch erläutert die Auswahl: „Normalerweise zeigen wir einen internationalen und einen hiesigen Künstler. Diesmal haben wir uns für zwei rheinische Experimentalfilmer entschieden, die seit 50 Jahren die Filmkunstszene entscheidend prägen.“ Videonale.scope ist eine Veranstaltungsreihe innerhalb der zweijährlichen Videonale, die sich den Übergängen und Schnittstellen zwischen Film- und Videokunst widmet. Die Videonale selbst wurde 1984 ins Leben gerufen, um zeitgenössische Videokunst zu vermitteln. In den Worte von Wilhelm Hein: „Der Experimentalfilm hat eine offene Form, verwendet Zitate, geht ironisch-spielerisch mit dem Material um.“ Seine Komplexität in Bild und Ton ist zugleich Ausdruck für die Vielschichtigkeit menschlicher Gefühlswelt.
Retrospektive Wilhelm Hein & Lutz Mommartz | Fr 25.11. 19.30, 21.30 Uhr in der Temporary Gallery, Mauritiuswall 35 | Sa 26.11. 15 Uhr im Turistarama | Sa 26.11. 19.30, 21.30, 23 Uhr im Filmclub 813 | Videonale-Webseite
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