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Plinio Bachmann und Barbara Sommer
Foto: privat

„Mir geht's schlecht, also habe ich recht“

27. September 2022

„Der eingebildete Kranke“ am Schauspiel Köln – Premiere 10/22

Im Zentrum von Molières Komödie „Der eingebildete Kranke“ steht der Hausherr und Familientyrann Argan, der sich ständig rektale Einläufe machen lässt - was damals Mode war und auch heute noch ist. Stichwort: „Hydro-Colon-Therapie“. Am Kölner Schauspiel inszeniert Hausherr Stefan Bachmann Molières Komödie. Ein Gespräch mit den beiden BearbeiterInnen Barbara Sommer und Plinio Bachmann.

choices: Frau Sommer, Herr Bachmann, in Molières „Der eingebildete Kranke“ hat das Familienoberhaupt Argan täglich Besuch von seinem Arzt, der ihm rektale Einläufe verabreicht. Woran leidet Argan eigentlich? 

Plinio Bachmann (PB): Er leidet in erster Linie an einem Machtdefizit und einem Mangel an Aufmerksamkeit. Seine Strategie, Aufmerksamkeit zu bekommen und Macht auszuüben, besteht darin, sich als Opfer zu inszenieren. Und da sind wir nah beim Titel von Molières Stück, dass also diese eingebildete Krankheit letztlich zielgerichtet erfunden und eingesetzt wird.

Barbara Sommer (BS): Aber die Krankheit vertuscht auch, dass Argan total Angst vor dem Tod hat. Das ist der Motor, der ihn antreibt - und der ihn zu diesem Tyrann macht, der Leute um sich schart, die er terrorisieren kann.

Der Opferstatus kommt also nicht nur Minoritäten zu, sondern auch machtvollen Figuren?

PB: Das ist heute gang und gäbe, und zwar sowohl bei sich benachteiligt fühlenden Minderheiten wie bei Potentaten wie Putin oder dem verflossenen Trump. Die Strategie, sich als Opfer darzustellen und dadurch an Macht und Einfluss zu gewinnen, ist ganz oben in den Regierungspalästen großer Länder angekommen.

BS: Also ganz im Sinne von „Mir geht's schlecht, also habe ich recht“.

Wie sind Sie beide eigentlich an die Bearbeitung des Stücks herangegangen? 

BS: Auf zwei verschiedenen Wegen: Wir haben viel mit Regisseur Stefan Bachmann gesprochen. Und wir haben uns intensiv mit dem Text von Molière beschäftigt. Vor allem mit der Mechanik des Stücks und seinen Figuren, die noch Elemente der Commedia dell'Arte in sich tragen. Dann sind wir schnell drauf gekommen, dass diese Mechanik immer noch sehr gut funktioniert und wir diese typenhaften Figuren am liebsten mit heutiger Sprache und heutigen menschlichen Erfahrungen auffüllen möchten. Wir haben dann ausprobiert, was man wem im Mund legen kann und wer sich dadurch wie verändert. Uns war von schon am Anfang klar, dass keine dieser Figuren eigentlich recht hat oder die moralische Oberhand behält. Auch das Hausmädchen Toinette nicht, das einen manipulativen Charakter besitzt und sich wie ein Chamäleon auf alles einstellen kann, was um sie herum passiert,. 

PB: Inhaltlich war unser Einstieg dieser Opfer-Terrorismus oder diese Machtausübung durch das Sich-Benachteiligt-Fühlen. Und ausgehend davon haben wir uns gefragt, wie lassen sich diese überzeichneten Stereotypen der Commedia dell-Arte mit neuen, modernen, zeitgenössischen Positionen füllen. Darüber sind wir dann zu den Figuren des Verschwörungstheoretikers, des woken Liebespaars, dem Mann mit Opferrhetorik und Fäkalterror, der geldgierigen Heiratsschwindlerin und den verknöcherten, unbelehrbaren Akademikern gekommen. 

Sind Sie bei der Umschreibung des Stücks eher arbeitsteilig vorgegangen oder machen Sie alles zusammen? 

PB: Wir kennen das aus dem gemeinsamen Drehbuchschreiben. Bei dieser Art von Arbeit bestehen 80 Prozent aus Reden, das Schreiben sind dann nur noch 20 Prozent. Wir haben uns die Recherche der verschiedenen Fachjargons, also zum Beispiel den medizinischen, den fäkalen oder den verschwörungs-theoretischen Jargon, aufgeteilt. Beim Schreiben läuft es dann eher so, dass der eine was macht, der andere dann drübergeht. Man schiebt es so lange hin und her, bis beide zufrieden sind. Dann hatten wir noch zwei tolle Feedbacks von außen durch Stefan Bachmann und der Kölner Chefdramaturgen Thomas Jonigk.

Beim Lesen ist mir diese Reibung zwischen historischer Molièrescher Komödien-Mechanik mit ihren Motiven wie erzwungene Heirat oder Kloster bzw. Klinik und der zeitgenössischen Überschreibung wie bei dem woken Liebespaar Angélique und Cléante aufgefallen.

PB: Das war eine Gratwanderung. Uns hat diese Komödien-Mechanik, die funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk, fasziniert. Dass wir vieles davon beibehalten haben, geht auf Regisseur Stefan Bachmann zurück, der dieses Clowneske, dieses Knattrige auch auf der Bühne haben wollte. Also dass zum Beispiel jemand den anderen vorspielt, er sei tot und dann macht er Huhu, ich bin ja noch am Leben. Gewisse Mechanismen haben wir zwar ersetzt, aber ohne etwas von der Wirkung zu verlieren. Es wird bei uns nicht mehr mit Kloster gedroht, sondern mit Einlieferung in die Psychiatrie. An der Heirat wiederum haben wir festgehalten, weil es da um das Erbe geht, um die Geldgier und die Frage, wer davon welchen Profit hat. 

BS: Beim Heiraten geht es ja nicht nur um die schlichte Eheschließung, sondern das steht auch für die Übergriffigkeit des Vaters, das war uns wichtig. 

Im Hintergrund geht es auch um Geld: Argan versucht es zu sparen, der Arzt will es einzunehmen, Argans Ehefrau ist eine Erbschleicherin. Welche Rolle spielt das Geld für die Komödie? 

PB: Jede dieser Figuren hat zwar ihren eigenen Soziolekt und weist damit auf ein gewisses ideologisches Gebäude hin. Aber allen gemeinsam unterliegt eigentlich die knallharte ökonomische Realität. Die Beziehungen werden gesteuert durch ökonomische Interessen und nicht durch romantische, familiäre, emotionale oder politisch korrekte Verhaltensweisen. Sondern was am Schluss die Mechanik steuert, ist das ökonomische Interesse.

BS: Aber das Liebespaar hat nicht so viel mit dem Geld zu tun. Cléante und Angélique bilden eine Kontrastfolie, weil für sie das Materielle überhaupt keine Bedeutung hat, sondern nur das Emotionale. Für uns lag der Reiz darin, wie zwei woke Menschen in eine Intimität miteinander kommen, wenn gleichzeitig ihr gesellschaftliches Überich und ihre PC-Sprache mitmischen möchten. Ist dann Intimität überhaupt noch möglich? Gibt es überhaupt noch eine spontane Gefühlsäußerung? 

PB: Das ist so eine Art sprachliche Sittenpolizei als Intimacy Coach.

Moliere hat noch versucht, die Emotionen zu lenken und Toinette, Angelique und Cléante als Sympathieträger zu etablieren. Sie haben keine sympathische Figur mehr übriggelassen. 

BS: Das war für uns auch ein Versuch. Wir wollten, dass man zunächst jede Figur ein Stück weit verstehen kann, dass sie dann aber so ins Extrem getrieben wird, dass man sich von ihr wieder abgestoßen fühlt und sich nicht mehr mit ihr identifizieren möchte. Während des Überarbeitens haben wir dabei ein bisschen mit den Figuren gespielt.

PB: Wir hatten sehr viel Spaß dran, jede Position eskalieren zu lassen. Das bildet ja auch die heutigen Qualitäten des gesellschaftlichen Diskurses angemessen ab. Bei aller Drastik in der Figurenzeichnung, bei diesem ganzen Bouquet von Unzugänglichkeiten und Dysfunktionalitäten wird man aber am Ende die Figuren dennoch mögen. Es ist das Wesen der Komödie, dass sie liebenswerte Vollidioten zeigt, in denen wir uns selber erkennen.

Der eingebildete Kranke | R: Stefan Bachmann | Schauspiel Köln | 29. (UA), 30.9., 2., 12., 23.10. | 0221 221 28 400

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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