Der Andrang ist groß an diesem Abend. Unter den Gästen viele Tattooträger, aber eine Pflicht ist das nicht. Denn hier gibt es keinen Zwang. Mitten im industriell anmutenden Szeneviertel in Ehrenfeld entstand auf dem Heliosgelände, unweit das gleichnamigen Leuchtturms, vor zweieinhalb Jahren ein dreiteiliges Szene- und Eventlokal, das Helios37. Doch, wie viele Clubs in Köln, nur mit befristetem Vertrag mit Aussicht auf Verlängerung. Musste das Underground indessen schließen, so hat das Party- und Konzertvolk in Ehrenfeld seitdem eine alternative Möglichkeit, hier vor allem Independent-Konzerte, aber auch andere Veranstaltungen zu besuchen.
Die Betreiber dahinter sind aber altbekannte Gesichter, organisieren doch Micki Pick von der Live Music Hall und Georg Schmitz-Behrenz vom Underground ebenfalls das Helios37 unter dem Dachtitel 1st Division GmbH. Die dreifaltige Partymöglichkeit besteht aus einer Lounge, genannt „Stapel.Bar“, inklusive eines Biergartens, sowie einem Club mit einem ausgefallenen Lichtkonzept, das die Gäste mit unterschiedlichen Projektionen in verschiedene Landschaften transferiert. Bei der Auswahl an Bands wird vor allem darauf geachtet, dass es sich nicht um kommerzielle Mainstream-Gruppen handelt, sondern eher um alternative, teils auch schräge und laute Musik.
Passend dazu stürmt die sehr antibürgerliche, von Gerüchten umwobene, amerikanische Gimmick-Punk-Pop-Band Masked Intruder mit ihren bunten Skimasken das Helios37 und das Publikum rennt nicht weg, sondern ist begeistert. Und das, obwohl es sich bei der 2011 gegründeten Melodycore-Band aus Wisconsin laut inszenierter Biografie um Verbrecher handeln soll, denn die Mitglieder lernten sich angeblich im Gefängnis kennen. Lustigerweise hat die vierköpfig auftretende Band auch einen „Polizisten“ namens Officer Bradford mit auf die Bühne geschleppt, der das Geschehen mal kritisch beäugt, dann plötzlich einen riesigen Schwimmreifen auf die Bühne zaubert und damit skurril tanzt. Doch auf „angeblich“ liegt die Betonung: Bei dieser Band ist nämlich nichts sicher. Selbst die Mitglieder, die nach Farben benannt sind – heute tragen sie grün, blau, lila und pink – könnten andere sein. So passen Masked Intruder, deren Skimasken wild und schräg leuchten, bestens in das Konzept des Clubs.
Gerüchten zufolge soll es auch keine amerikanische, sondern in Wirklichkeit eine kanadische Musikgruppe sein. Eine ironische, postapokalyptische, sich selbstreflexiv inszenierende Fake-Band der Superklasse, die nichtsdestotrotz vermeintlich romantische Titel à la „Wish You Were Mine“ und „All of My Love“ oder „Valerie Is Getting Married“ spielt, dabei nicht zuletzt Popmusik und Kommerzkitsch humorvoll aufs Korn nehmend. Trotz heißen Wetters tanzt das Publikum vergnügt.
Und das soll den ganzen Abend so weitergehen, folgt doch ein Auftritt der bereits 1986 gegründeteten Hardcore-Punkband Good Riddance aus dem kalifornischen Santa Cruz. Passend zum Motto des Helios ist der Inhalt der Lieder jener Band mit dem unprätentiösen Namen, der übersetzt so viel wie „Und tschüss“ oder „Auf Nimmerwiedersehen“ heißt, meist antikapitalistischer und rebellischer Natur. Sie richten sich nicht selten gegen den eigenen Staat. Nachdem sie sich bereits getrennt und verabschiedet hatten, gab es 2012 eine Wiedervereinigung, 2015 folgte ein Album mit dem ironischen Titel „Peace in Our Time“.
Im Juli diesen Jahres erschien ein weiteres mit dem messerscharfen Namen „Thoughts and Prayers“, eine humorvolle Anspielung auf die Klischeeworte, die amerikanische Politiker oft verwenden, wenn es mal wieder überraschenderweise ein „schlimmes Attentat“ in ihrem Waffenland oder eine Naturkatastrophe gab. Das Kölner Publikum pogt und schwitzt jedenfalls gegen Klimawandel und Spießigkeit an. Wenn auch nichts anderes sicher ist – kein Frieden, aber auch nicht das Leben und Sterben der Kölner Clubszene – so ist bei diesen beiden Bands zumindest Spaß, Tanz und Schweiß garantiert.
Da immer nur Dreijahresverträge abgeschlossen werden, läuft der für das Helios37 2020 womöglich aus. Bleibt zu hoffen, dass er verlängert werden kann, damit es nicht „und tschüss“ heißt und das Helios dem Clubsterben zum Opfer fällt, sondern es weiterhin Konzerte der etwas anderen Art geben wird. Wer beklaut wurde, zu viel Schweiß verloren oder etwas anderes zu beanstanden hat, kann sich bestimmt an den netten Polizisten mit dem rettenden Schwimmring wenden. Der rockt.
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