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Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze
Foto: Josoor

Infiziert mit Selbstmitleid

17. April 2020

Wie Europa die Augen vor der Welt verschließt – Corona-Ecke 04/20

Corona hat die Welt im Griff. Niemand würde bestreiten, dass diese Pandemie unser aller Leben beeinträchtigt. Am schlimmsten betroffen sind natürlich diejenigen, die Angehörige verloren haben oder selbst mit dem Virus ringen. Dann stehen viele Existenzen vor dem Aus. Investitionen stocken. Miete und Einkäufe wollen trotzdem bezahlt werden. Und die Zukunft ist ungewiss.

Doch es ist auch ein selbst geschaffener Teufelskreis. Covid-19 bestimmt nicht nur die Gespräche am Mittagstisch oder über den Skype-Bildschirm, sondern nimmt auch den Großteil der Berichterstattung ein. Corona ist überall. Unser Gedankenkarussell dreht sich um das Virus – und um uns selbst. 

Dabei gilt es gerade in Krisenzeiten den Blick für das große Ganze nicht zu verlieren. Andere Herausforderungen und Konflikte halten nicht einfach den Atem an und warten, bis wir uns ihnen wieder zuwenden. Gerade im Schatten medienpräsenter Ereignisse spielen sich oft Szenen ab, die eigentlich scharfsinnige Betrachtung benötigen. Und die nach Aufschrei und Widerstand verlangen.

Sei es, dass fragwürdige Gesetze durchgewunken, Deals gemacht oder Unterschriften gesetzt werden – oder eben neben der „höheren Gewalt“, die Europa gerade in Schrecken versetzt, ein menschengemachter Albtraum tobt.

„Während in Europa Gesundheit zur Staatsangelegenheit Nummer eins erklärt wurde, hat man an der Grenze mit abgelaufenem Tränengas auf Kinder geschossen“, erzählt Lorenz, der für ein Auslandsjahr gerade in Istanbul ist. Der Student konnte das Leid nicht mit ansehen und wurde spontan selbst aktiv. Er reiste nach Edirne an der türkisch-griechischen Grenze und packte mit an: „Wir haben von früh bis spät Decken, Regenplanen, Hygieneartikel, Kleidung, Essen, Trinken und Medikamente organisiert und verteilt.“

Zusammengetan hat er sich dafür mit anderen Freiwilligen via Facebook. Die derzeitige Berichterstattung empfindet er als verstörend: „Das Virus scheint das größte und einzige relevante Thema in den Medien zu Hause, aber ein wenig verspätet auch in der Türkei zu sein. Europa ist so in Selbstmitleid versunken, dass es keine Rolle mehr spielt, dass wir teilweise der Grund für die Probleme anderer Leute sind.“


Foto: Josoor

Dabei verdeckt Corona eigentlich keine anderen Probleme unserer Gesellschaft, sondern lässt sie im Gegenteil umso deutlicher hervortreten. Wer schon über nationale Abschottung in Europa und so manchen Alleingang der einzelnen Bundesländer der Kopf schüttelt, dem müsste bei derart aggressivem Eurozentrismus eigentlich die Luft weg bleiben.

„Amnesty International bestätigt zwei Todesfälle durch scharfe Munition“, berichtet Lorenz, dessen Bild von der bösen Türkei und der guten EU sich mit der Zeit gewandelt hat. „Ganz am Anfang steht natürlich trotzdem eine Lüge, ein Schachzug der türkischen Seite – das Versprechen offener Grenzen. Es waren aber beispielsweise die türkischen Soldaten, die den Menschen, die nur in Unterwäsche zurückkamen, neue Kleidung gaben.“ Die ernüchternde Rückkehr vom verheißungsvollen Europa.

Von Asylrecht ist in Griechenland in diesen Tagen wenig zu spüren und Menschenrechte scheint auf beiden Seiten der Grenzen ausgesetzt zu sein. Europa zeigt sich weiterhin handlungsresistent: „Da ist der Unwillen der Europäer, Sicherheit und Gesundheit für Geflüchtete zu gewähren. Menschenrechte in Europa bleiben für jene Menschen leere Versprechungen.“ Während wir hier um die fünfte Packung Klopapier kämpfen und uns mit Desinfektionsmittel en masse eindecken, müssen in jenen Grenzgebieten die Flüsse als einziges Hygienemittel herhalten. Ob bei Minusgraden unter freiem Himmel oder zusammengepfercht in den Camps – in dieser Lage sind Maßnahmen gegen Corona ein Luxus, den man sich nicht leisten kann.

Wer Schiffbruch erleidet, hat gutes Recht, sich in ein Rettungsboot zu flüchten. Auch darf man sich die eigene missliche Lage bewusst machen. Trotz alledem ist das keine Entschuldigung dafür, andere aus dem Boot zu stoßen und noch hinterherzutreten.

Die aktuelle Situation in Europa kann hart sein. Auch hier haben es sich nicht alle im Reihenhaus mit Garten gemütlich gemacht und probieren neue Backrezepte für Brotsorten aus. Aber zu vergleichen sind die Zustände trotzdem nicht. „Es geht mir vor allem darum, dass die Europäer mitbekommen, dass in ihrem Namen Menschen erschossen und misshandelt wurden. Dass sie aufgefordert wurden, sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt bis auf die Unterwäsche auszuziehen und dann den Rückweg Richtung Türkei anzutreten.“ Zum sogenannten Schutz unserer EU-Außengrenzen.

Derartiges muss hierzulande wahrlich niemand durchmachen. Und es erscheint bereits ein Silberstreif am Horizont. Die Zahl der Neuinfektionen steigt nicht mehr so drastisch an, die Kurve scheint abgeflacht, sogar von „Exit“ ist die Rede. Für niemanden wird es so weitergehen wie vor Corona. Aber wer seine Existenz aufgegeben, sein Hab und Gut verloren hat und nun ohne Papiere durch Europa taumelt, der sollte zumindest eins hier finden: eine Zukunft.

Darum heißt es: Wach bleiben, nicht hinter Hamsterkäufen einmauern und warten, bis die Krise vorüber ist. Denn die Krise ist in uns selbst. Wir entscheiden jetzt, ob wir nur für uns oder vielleicht auch für die alte Dame im Stockwerk unter uns sorgen wollen. Oder für den neuen Nachbarn, der gerade noch an den europäischen Grenzen um sein Leben bangt.

Lisa Thiel

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