Bird
Frankreich, Großbritannien, USA, Deutschland 2024, Laufzeit: 118 Min., FSK 16
Regie: Andrea Arnol
Darsteller: Barry Keoghan, Franz Rogowski, Nykiya Adams
Poetisches Coming of Age-Drama aus dem Sozialbau
Vibrierend und flirrend
„Bird“ von Andrea Arnold
Ein Tierfilm, könnte man denken. Nicht bloß wegen des Titels. Tiere nehmen in dem neuen Film von Andrea Arnold eine recht prominente Rolle ein: Pferde, Schmetterlinge, eine Kröte, ein Fuchs –und natürlich Vögel. Aber im Zentrum des Films steht Bailey, ein 12-jähriges Mädchen, das in der mittelgroßen Stadt Gravesend in Kent lebt, ca. 35 Kilometer östlich von London. Hierher stammt Schauspielerin Gemma Arterton, unter anderem Bond-Girl in „Ein Quantum Trost“. Von derartigem Glamour sind Bailey und ihre Familie in ihrem besetzten Haus aber weit entfernt. Ihr Vater Bug (noch ein Tier?), ein überschwänglicher, am Körper und im Gesicht mit Insekten (!) tätowierter Typ, hat schon mit 14 seinen ersten Sohn Hunter bekommen, danach kam Bailey zur Welt. Die Mutter lebt längst mit drei jüngeren Halbgeschwistern unweit in einem heruntergekommenem Haus, der aggressive Typ an ihrer Seite ist aber sicher nicht der Vater der Kinder. Nun ist auch noch Hunters 14-jährige Freundin aus der Mittelschicht schwanger. Aber das schlimmste für Bailey ist, dass ihr Vater wieder heiraten will. Seine Freundin kennt er zwar erst seit drei Monaten, doch nach der Hochzeit wird sie mit ihrer kleinen Tochter bei Bailey, ihrem Bruder und ihrem Vater in die Wohnung einziehen. Die Wohnung, in der Bailey mit Vater und Bruder lebt, scheint das ganze Chaos der familiären Verwicklungen zu spiegeln. Irgendwo zwischen prekär, verdrogt und künstlerisch. In dem neuerdings im Viertel umherstreifenden Bird findet Bailey zunehmend einen Freund und Unterstützer. Doch auch er trägt wohl eine schwierige Vergangenheit in sich.
Andrea Arnold stammt aus dem sozialen Wohnungsbau dieser Gegend. 1961 wurde sie dort als Kind von minderjährigen Eltern geboren, hat selber die Schule abgebrochen. Sie kehrt mit „Bird“ zu ihrer eigenen Herkunft zurück. Und sie kehrt zu den Anfängen ihrer Filmkarriere zurück. Gleich mit ihrem dritten Kurzfilm „Wasp“ hat sie 2005 den Oscar für den besten Kurzspielfilm gewonnen. Mit „Fishtank“ um ein 14-jähriges Mädchen, das sich in den neuen Freund ihrer Mutter verliebt, blickte sie 2009 abermals in dieses Szenario. Ihr amerikanisches Debüt „American Honey“ (2016) begleitete mit viel poppiger Verve, die fast schon an Harmony Korine erinnerte, eine Gruppe Heranwachsender. Nach drei britischen Serien und dem Dokumentarfilm „Cow“ (2022) über eine Milchkuh, die sie vier Jahre lang begleitete, ist sie nun wieder beim Spielfilm und dem sozialen Milieu ihrer Herkunft gelandet. Auch Barry Keoghan („The Banshees of Inisherin“, „Saltburn“), der Baileys Vater Bug spielt, kennt sich mit dem sozialen Gefüge des Films aus. Seine Mutter ist an einer Überdosis Heroin gestorben, als er 12 Jahre alt war. Die folgenden Jahre verbrachte er in unzähligen Pflegefamilien, bis er zum Film gelangte und für „Bird“ sogar seine Rolle in „Gladiator II“ sausen ließ. Dass auch der deutsche Arthaus-Star Franz Rogowski sehr genau seine Projekte auswählt und viele Angebote ausschlägt, ist bekannt. Ein Herzensprojekt für alle Beteiligten. Und das merkt man dem Film in jeder Einstellung an.
Der Blick auf die Protagonist:innen in „Bird“ ist weder abschätzig noch idealisierend. Er ist zuallererst sehr lebendig. Das transportiert der Film über seine Figuren. Der Soundtrack des britischen Dubstep-Produzenten Burial mit seiner verträumten Atmosphäre und aufrührerische Hip-Hop- (ASBO, SV) und Indie-Tracks (Fontaines DC, Sleaford Mods u.a.) unterstützen das sehr. Aber auch die Kamera, die meist aus der Hand geschossen ganz nah und agil an den Menschen ist. Die Kamera lässt uns aber auch Zeit, mit Bailey, gespielt von der beeindruckenden 12-jährigen Neuentdeckung Nykiya Adams, die Umgebung zu erkunden, die Menschen um sie herum, die Architektur, aber auch die Natur der Peripherie, die Insekten und natürlich die Vögel. Dann taucht der Film ein in einen fast magischen Realismus, und überschreitet gegen Ende diese Grenze, die den Film nochmals von sozialrealistischen Kollegen wie Ken Loach abgrenzt. Anders als bei Loach wird bei Andrea Arnold auch nicht agitiert. Dafür ist ihre vibrierende, flirrende Filmwelt zu vieldeutig und offen angelegt.
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