Auf die Idee muss man erst mal kommen. Kurz nachdem Harald Szeemann 1972 die documenta in Kassel geleitet und mit dieser weltweit für Aufsehen gesorgt hatte, wandte er sich einem sehr persönlichen, erstaunlichen Forschungsgegenstand zu: Er sondierte den Nachlass seines Großvaters Ètienne Szeemann, der Frisörmeister mit mehreren Läden und Erfindungen in seinem Metier gewesen war, und stellte ihn 1974 öffentlich aus, noch dazu in seiner ehemaligen Wohnung in Bern, in der inzwischen die Galerie Toni Gerber ansässig war. - Eine Re-Inszenierung dieser Präsentation mitsamt der sie beherbergenden Wohnung ist nun in der Kunsthalle Düsseldorf zu sehen. Sie ist Teil der Ausstellung zu Harald Szeemann (1933-2005), einem der wichtigsten und originellsten Ausstellungsmacher bis heute, der durch seine kuratorischen Aktivitäten in der Kunstszene berühmt wurde. Szeemann trug zur Erweiterung des Kunstbegriffs bei und etablierte gleich mehrere Ismen. Mit seiner Künstlerauswahl und der Präsentationsform in Ausstellungen lud er die Vergangenheit utopisch auf und dachte sie als Erzählung über die Gegenwart hinaus weiter.
So unterschiedlich die Formate der documenta und der Ausstellung des Bestandes seines Großvaters sind: Gemeinsam ist ihnen doch, dass sich Szeemann auf unerforschtes Terrain begibt, dass er akribisch recherchiert, Ordnung in eine vermeintliche Unordnung bringt, Ideen und Konzepte überhaupt erst entdeckt und zum Leuchten bringt. Und dass er sich den merkwürdigen Gedankenwelten und noch den kunstfremden Außenseitern zuwendet. Was Szeemann machte, verweigerte sich dem Mainstream. Und so wie er das gemacht hat – mit der Liebe, der Sorgfalt und der Konsequenz – hat er herausgearbeitet, dass diese revolutionären Konzepte dem Wesen unserer Zivilisation und ihren Mythen auf der Spur sind. Kurzum, mit der Sprache des Privaten hat er das Öffentliche und die Befindlichkeit der Menschen analysiert. In der Umsetzung als Ausstellung war das dann ebenso solide wie theatralisch.
Die Präsentation in der Kunsthalle Düsseldorf geht nun dem Wirken von Szeemann anhand von Dokumenten nach, die sie auf anregende Weise zum Sprechen bringt. Gewiss ist einiges Vorwissen hilfreich, aber es funktioniert auch ohne. Die Ausstellung setzt mit Szeemanns früher Reise- und Zigarettenlust ein und wendet sich im Obergeschoss dann seiner Tätigkeit als Direktor der Kunsthalle Bern zu, die er bereits mit 28 Jahren übernahm. Seine wohl berühmteste, nach wie vor legendäre Ausstellung ist „Live in Your Head: When Attitudes Become Form“ (1969): Sie inszenierte mit europäischen und US-amerikanischen Künstlern, die kurz vorm Durchbruch standen, ein neues Kunstverständnis, das sich von den konventionellen Medien abwandte und die Idee und die Handlung selbst ins Spiel brachte. „Richard Serra verspritzte 210 Kilogramm geschmolzenes Blei auf den Wänden und auf dem gefliesten Boden, Joseph Beuys schmierte Margarine in die Ecken, Lawrence Weiner entfernte einen Teil des Aufputzes einer Wand […] und Michael Heizer zerstörte den Platz vor der Kunsthalle Bern mit einer Abrissbirne“, steht dazu in der Ausstellungsbroschüre der Kunsthalle Düsseldorf. „When Attitudes Become Form“ setzte Maßstäbe, führte aber auch zu lokalen Kontroversen, in deren Folge Szeemann seinen Direktorenposten räumte. Aber von nun an war er selbst ein Star am Kunsthimmel. Ebenso wie seine documenta 5 ist das in der Düsseldorfer Ausstellung durch Plakate, Briefwechsel und Fotografien belegt. Angesprochen wird auch, welche Verdienste er um die Etablierung der Individuellen Mythologien, von Konzept- und Prozesskunst und Happening und Fluxus hatte. Ein Foto, aufgenommen von Balthasar Burkhard, zeigt ihn am letzten Tag seiner documenta auf einem Thron aus Holz, umgeben von einer Traube Menschen (Presse, Besucher, Künstler): völlig erschöpft, aber glücklich.
Von nun an ging es für Harald Szeemann nur noch freiberuflich weiter. Er blieb mit seiner „Agentur für geistige Gastarbeit“ weltweit gefragter Quer- und Vorausdenker, der nicht nur intime Schauen wie die zu seinem Großvater, sondern auch thematische Großausstellungen konzipierte. Seine drei vielleicht bekanntesten derartigen Ausstellungen werden nun sogar mit Werkbeispielen vorgestellt: „Junggesellenmaschinen“ (1976), „Monte Verità“ (1978) sowie „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ (1983 in der Kunsthalle Düsseldorf). So wie sie im Kinosaal in der Kunsthalle am Grabbeplatz präsentiert sind, zeigen sie, dass Harald Szeemann, der älter geworden war, die Autodidakten gleichberechtigt neben die etablierten Künstler stellte, dass er das manische Tun mit den Collagen und architektonischen, skulpturalen Bauten bewunderte und diese mitunter in seiner Heimat, dem Tessin, verortete. Aus all dem erwuchs zudem eine ausufernde Sammel- und Archivleidenschaft, gelagert auf 600 Regalmetern. Dieses Archiv ist sechs Jahre nach Szeemanns Tod 2005 vom Getty Research Institute in Los Angeles erworben und über Jahre hinweg ausgewertet worden. Nachdem der Bestand als Ausstellung bereits in Los Angeles und Bern gezeigt worden ist, ist er jetzt in Düsseldorf erstmals mit der Schau zu Szeemanns Großvater kombiniert. Und hier zeigt sich, verbunden mit hinreißenden Ideen (wie den Transportkisten, die hinter der Wohnung des Großvaters wie eine Installation und ein Statement zu sehen sind), dass Harald Szeemann so gar nicht anders als seine Künstler von Weltruhm und die auf sich konzentrierten Autodidakten und Sonderlinge dachte: Er gehörte dazu.
Harald Szeemann: Museum der Obsessionen / Grossvater: Ein Pionier wie wir | bis 20.1. | Kunsthalle Düsseldorf | 0211 899 62 43
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