Unbemerkt von der kulturinteressierten Öffentlichkeit hat das in Köln ansässige NRW Landesbüro Tanz im letzten Jahr seinen „Bericht über selbstständige Choreografen und Tanzcompagnien in Nordrhein-Westfalen“, kurz: Choreografen-Bericht über die Spielzeit 2010 vorgelegt. Dieser Bericht zieht eine außerordentlich positive Bilanz über die Entwicklung des freien zeitgenössischen Tanzes und damit über die Zukunft des Tanzlandes NRW. Von 92 auf jetzt 113 ist die Anzahl der in NRW tätigen ChoreografInnen deutlich angestiegen. Allein 42 davon leben und arbeiten in Köln. Damit bleibt Köln weiterhin unangefochten die – quantitative – Tanzstadt von NRW. Der Bericht belegt eine Steigerung in allen Bereichen: Tanzproduktionen, Aufführungshäufigkeit, Auslandsgastspiele. Tanz als NRW-Exportschlager. Grund genug zum Jubeln: für das Landesbüro Tanz als Herausgeber des Choreografen-Berichtes, für die Gesellschaft für Zeitgenössischen Tanz (GZT) als Träger des Landesbüros und für die Landesregierung NRW als politisch Verantwortliche für die Neuausrichtung der Tanzförderung seit 2009. Inzwischen hat NRW eine Spitzenförderung Tanz, werden Mittelzentren wie Bonn, Münster und Mülheim gefördert, und das in Düsseldorf ansässige Tanzhaus NRW sicherte sich den Geldsegen für die Einrichtung einer Vermarktungsagentur Tanz. Alles Maßnahmen, deren positive Auswirkungen sich im Choreografen-Bericht 2010 andeuten. Doch von Jubel keine Spur.
Stattdessen wird der Choreografen-Bericht mit seinem positiven Ausblick klammheimlich wieder kassiert. Was steckt dahinter? Beeinflussen etwa tanzpolitische Einzelinteressen den Kurs von GZT und Landesbüro Tanz? Auf den ersten Blick ist der jährliche Choreografen-Bericht nur eine Dokumentation über die Tätigkeit der Tanzschaffenden. Ein Zahlenwerk, das nüchtern mit den Vorjahreszahlen verglichen und danach interpretiert wird. Doch genau darin liegt die Brisanz solcher Berichte. Ihr Zahlenmaterial enthält unumstößliche Fakten. Genau die aber scheinen dem Tanzhaus NRW und seinem Leiter so gar nicht in den Kram zu passen. Immerhin belegen Zahlen Erfolg oder Misserfolg und bestimmen über erhebliche Zuschüsse von Land, Stadt und Sponsoren. So verwundert es nicht, dass Bertram Müller, Leiter des Tanzhaus NRW in Düsseldorf und Vorstandsmitglied der GZT, die das Landesbüro Tanz betreibt, gleich eine Warnung dorthin richtet: „Es wäre ratsam, solche politisch nicht ganz harmlosen Kommentare in Zukunft genauer zu überprüfen“ und gar von „leichtfertiger Interpretation“ spricht. Gemeint war diese Feststellung im Choreografen-Bericht: „Das Erstaunliche ist, dass es Düsseldorf nicht gelungen ist, die Anzahl ansässiger Tanzschaffender signifikant zu steigern.“ Und weil nicht wahr sein darf, was wahr ist, machte der Tanzhaus-Leiter gleich mehrere Kölner Choreografinnen zu Düsseldorferinnen, um die Zahlen aufzupeppen. Da soll nochmal einer sagen, der Tanz mache nicht kreativ. Warum soll man sich nicht schnell mal ein paar Künstler andernorts ausleihen? Zwar hat das Landesbüro NRW in einer Replik eindeutig gekontert, aber der teuer produzierte Choreografen-Bericht liegt seitdem im Fach für Altpapier. Kein Grund zum Jubeln.
www.lb-tanz.de (Publikationen/Kommentare zum Bericht)
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