choices: Herr Borgmann, warum hat Ihr ursprünglich geplantes Projekt zur Kölner Jugendwiderstandsgruppe „Edelweißpiraten“ nicht geklappt?
Robert Borgmann: Ich hatte die Idee eines historisch übergreifenden Projekts zum Jugendwiderstand, in dem die „Edelweißpiraten“ die Hauptrolle spielen sollten. Es ging nicht um eine lokale Frage, eine pseudoanarchistische Möchtegernbewegung oder einfach nur das nächste Projekt zum Nationalsozialismus. Ich habe allerdings nicht ausreichend Material gefunden, das meine These gestützt hätte.
Ihr Stück trägt jetzt den Titel „Ausgehen 1-3“. Was interessiert Sie am Ausgehen?
Ausgehen hat schon in der Bedeutung des Wortes ganz unterschiedliche Aspekte. Man kann in einen Club ausgehen, man kann in die Natur ausgehen, man kann ausgehen im Sinne von abhauen und weglaufen, man kann in sich selber ausgehen, also sich verwandeln und ein anderer Mensch werden. Mich interessiert, diesen Vergleich des Ausgehens in unterschiedlichen historischen Stadien von Jugend zu untersuchen. Der Abend ist ein Laborversuch anhand der Texte von Büchner, Horváth und Markovics bzw. Bernhard: Ist dieser historische Prozess eine Endlosschleife innerhalb fixierter gesellschaftlicher Konstellation, oder gibt es Möglichkeiten, da herauszukommen und etwas anderes, etwas Wahreres und Echteres zu finden?
Sie kombinieren Büchners „Lenz“-Erzählung mit Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ und Barbi Markovics Adaption von Thomas Bernhards Roman „Gehen“, die jedoch all drei keine gesellschaftliche Alternative formulieren.
Da würde ich widersprechen. Horváth hat ein zwar skeptische, aber eine klare Alternative, nämlich Gott selbst als ein Außen. Für Gott könnte man auch den Kommunismus oder absolute Wahrheitssysteme einsetzen. Indem ich nach einem radikalen Wahrheitsbegriff handle, unterstehe ich nicht mehr dem Gesetz oder einer totalitären Gewalt. Ich muss zwar mit den Konsequenzen rechnen, aber ich kann gehen. Für die Figur des Lehrers bedeutet das die Freiheit. Diese Freiheit ist allerdings ambivalent, weil gewissermaßen Leichen den Weg dahin pflastern, auch die seiner eigenen Schüler. Der Lehrer trifft eine Entscheidung, die für ihn in diesem Moment Wahrheit, also Gott bedeutet. Auch ich habe das Gefühl, wenn ich Theater konsequent machen will, dann komme ich um bestimmte Absolutismen nicht herum oder ich tackere mich an einen Zeitgeist an, der sagt, wir können alles mal ausprobieren – was ich ablehne. Ich suche im Theater nach dem Punkt, der für uns auf der Bühne in dieser Zeit Wahrheit bedeutet. Wenn ich nicht glaube, dass das geht, dann brauche ich das nicht zu machen, was ich mache.
Wie verbindet sich das mit Büchners „Lenz“?
Büchner ist jemand, der eine unglaubliche Wut auf die politischen Zustände seiner Zeit hat. „Lenz“ als Figur geht aus bestimmten Gründen in die Natur; er schleppt diese kaputte Energie aus der Stadt, aus der Gesellschaft, aus der Liebe, vor der er flüchtet, mit sich. Er hat Gründe sich zu retten und trifft als erstes auf das Spiegelbild der Stadt in der Natur. Alles wird zu einem grauen Einheitsbrei von ununterscheidbaren Dingen. Diesen Vergleich finde ich hochspannend, im Ausgehen immer auf das Spiegelbild von dem zu treffen, was man zurückgelassen hat. Da unterscheidet er sich gar nicht so sehr von Markovics-Figuren, die ausgehen und immer wieder sich selber treffen. Ich habe bei Lenz das Gefühl, dass der sich fast auflöst, dann wieder gerade zusammenfindet, dann sich wieder fast auflöst. Irgendwann zerfleddert ihm alles, bis er im Descartesschen Sinne als „cogito“ ohne „ergo sum“ dasteht. Wenn man den Punkt zwischen den beiden Bindestrichen vor dem allerletzten Satz („So lebte er hin“) nicht negativ denkt, sondern ihn als Möglichkeit versteht, alle Begriffe abgeschafft zu haben und dann vor der weißen Wand des „Ich“ zu stehen – dann empfinde ich das als großen utopischen Wurf.
Die Bernhard-Markovics-Mischung wirkt dagegen wie eine Groteske, in der das Kreisen der Sprache und ihre Wiederholungen einen Erregungsprozess im Stillstand markiert.
Ich empfinde diesen Text als überspitzten Ausdruck einer Generation und nicht nur der Clubkultur. Für mich steht Club als Metapher, da könnte man auch Schule einsetzen. Die Figuren drehen sich sprachlich wie inhaltlich im Kreis von Musik, Kleidung, Freundschaften, der Frage ‚In welchen Club gehen wir?’. Sie beziehen ihre Energie gerade auch aus dem Sprechen. Wenn du sprichst, bezeugst du, dass du da bist. Wer nicht mehr spricht und nicht mehr ausgeht, führt uns unser Scheitern vor, deswegen wollen wir mir dem nichts mehr zu tun haben. Das ist bei Markovics die Figur der Bojana, die auf einem großen Konzert dieser ganzen Clubbing-Gesellschaft und ihrer Generation vorwirft, was für ein sinnloser Dreck sie ist.
Ist diese Clubbing-Gesellschaft bei Markovic dann Jugendkultur als Farce?
Das ist die finale historische Stufe, wenn man so will. Es ist eine Farce und beinharte Realität gleichzeitig. Bei dem Begriff Jugendkultur bin ich mir gar nicht so sicher, ob das nicht als einheitliche Bewegung inzwischen abgefrühstückt ist. Ich habe das Gefühl, dass Techno die letzte war, die als solche definiert werden kann. Jugend definiert sich heute über unterschiedliche Formen von Virtualität. Das ist eine Art schleichende Revolution und wird die Realität extrem verändern.
Wie verbinden sich die drei Teile?
Mein Grundgefühl ist, dass die drei Teile relativ unverbunden nebeneinander stehen und dass sie über das Spielen innerhalb eines Zeitraums, über den Raum und die Schauspieler gebunden werden. Inwiefern sich auch Texte vermischen, weiß ich noch nicht. Der Markovic-Text wird den Abend eröffnen, Horváth wird in der Mitte stehen, und dann folgt „Lenz“, der Abend wird also historisch rückwärts erzählt.
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