Den Spielzeitauftakt 2011/2012 hat das Tanzhaus NRW in Düsseldorf mit einer Tanzperformance der argentinischen Wahlberlinerin Constanza Macras gefeiert. Längst Stammgast am Düsseldorfer Tanzhaus, brachte die Choreografin ihr neues Stück „Berlin Elsewhere“ mit, ein Stück das ausdrücklich nicht in Berlin spielt, wie der Videovorspann erläutert.
Berlin ist überall und anderswo, suggeriert also der Titel und meint damit: Die Probleme, die in dieser Inszenierung auf den Tisch bzw. die Bühne kommen, sind überall die gleichen. In der Tat sind die Wohnsilos, die als Styropormodell auf der Bühne stehen, in allen Metropolen der Welt zu finden. Sie werden gekippt und dienen als Tanzpodest. Unwillkürlich denkt man an die schon dreißig Jahre zurückliegenden Titel der Berliner Band „Einstürzende Neubauten“. Von solchen Symbolen der Unkultur wimmelt es im Stück. Es ist ein ziemlich schräges Stück. Aber das ist man von Constanza Macras Inszenierungen gewohnt. Schräg ist die Musik, die oftmals laut und unmotiviert mit der Tür ins Haus, oder besser: mit der Pauke ins Geschehen knallt. Schräg sind die Songs, bei denen die Performer nicht immer den richtigen Ton treffen. Schräg ist der Tanz, der vorwiegend aus Rennen, Fallen, Springen, Drehen, Rollen besteht als aus tänzerisch überzeugenden Bewegungen. Schräg ist vor allem Macras Inszenierungsweise. Zwei unendlich lange Stunden schüttet sie auf der Bühne alle Probleme dieser Welt aus. In unzählig vielen Episoden, Sketchen, Szenen – es mögen an die hundert sein – rauschen soziale, gesellschaftliche und auch weltpolitische Themen in flottem Tempo am Zuschauer vorbei. Irgendwann zählt man nicht mehr mit. Und irgendwann lässt man sich nur noch von den Gags, der Komik und dem Klamauk einnehmen. Die Inhalte, so dramatisch sie sind, verblassen dahinter. Szenenapplaus gibt es für die als Mobiliar verkleideten Performer, einer Kritik am Konsumrausch der Mittelschicht. Doch was die Sexorgie auf der Hüpfburg soll, bei der jede mit jedem kopuliert, erschließt sich nicht. Oder soll das als Vorwurf an die 68er-Freizügigkeit verstanden werden, die heute von fast allen Seiten für spätere Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht wird?
Thematisch ist es ein wilder Ritt durch eine Welt gesellschaftlicher Exzesse und sozialem Wildwuchs. Alles wird aufgegriffen und verarbeitet: die Wohnwüsten der Vorstädte, der Konsumterror, die Armut, Unterdrückung und Abhängigkeit, Menschenrechte, sexueller Missbrauch, Bulimie als Symptom, die weltpolitischen Probleme von Bagdad über Kabul bis Vietnam. Das Hauptproblem der Inszenierung liegt darin, dass vieles angerissen, aber nur wenig vertieft wird. Beklemmend die Szene der koreanischen Schülerin, die von ihrem Lehrer sexuell gemobbt wird und durch ihre Umwelt zum doppelten Opfer wird: „Did you fuck the teacher?“ In der Szene redet eine Performerin unablässig auf eine Tänzerin ein, erzählt die Mobbingstory, während Bild- und Videoeinspielungen das Schulumfeld zeigen. Der Tanz versagt hier. Er bringt nicht die Verzweiflung und das Leiden der Schülerin zum Ausdruck, sondern ist fast identisch mit vorherigen Bewegungsabfolgen zu anderen Themen. Schade, dass hier die Chance vertan wurde, mit der Ausdruckskraft des Tanzes inhaltlich zu arbeiten. So unvermittelt, wie manche Szene beginnt, so abrupt endet sie häufig. Vieles wirkt wie aufgesagt, vorgetragen mit viel Emphase, aber ohne wirkliche Einfühlung. Was der rasante Durchmarsch durch die gesellschaftlichen Unwelten szenisch und tänzerisch nicht schafft, sollen wohl kontrapunktische Bild- und Videoeinspielungen leisten. Doch selbst dabei fühlt man sich als Zuschauer nicht ernst genommen. Oder wer würde bei einem zugemauerten Fenster nicht an die Ausweglosigkeit aus all diesen Dilemmata denken? Freundlicher, aber hörbar erschöpfter Applaus eines erschöpften Publikums.
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