Über den ersten Weltkrieg zu reden, ist eine trockene Angelegenheit – zumindest in Köln. Verantwortlich dafür ist Konrad Adenauer. Adenauer war während des Krieges als Dezernent für die Lebensmittelversorgung der Domstadt zuständig. Für dieses Amt empfohlen hatte er sich durch eine Erfindung aus dem Winter 1915: dem „Kölner Brot“, einem Brot auf der Basis von Maismehl. Andere Backzutaten waren knapp oder rationiert, und der spätere OB linderte mit seinem Brot die Hungersnöte in der Kölner Bevölkerung.
Adenauer als pragmatischer und taktisch geschickt agierender Politiker, immer das Wohl der Bevölkerung und den sozialen Ausgleich im Blick – dieses Bild des Altkanzlers hat seinen Ursprung in der Zeit des ersten Weltkriegs. „Damals gab es einen ‚doppelten‘ Burgfrieden“, erzählt der Historiker Manfred Faust, der sich in seiner Dissertation mit der Arbeiterbewegung in Köln während des Ersten Weltkriegs beschäftigt hat. „Einmal zwischen der bis dahin verfeindeten christlichen und sozialistischen Arbeiterbewegung und dann zwischen den bürgerlichen Parteien, der Stadtverwaltung und beiden Flügeln der Arbeiterbewegung. Das hat dazu geführt, dass die Arbeiterbewegung auch von der Stadtverwaltung und den bürgerlichen Parteien anerkannt wurde. Vorher galten diese als ‚vaterlandslose Gesellen‘.“ Ab 1916 saßen Mitglieder von SPD und Gewerkschaften in städtischen Ausschüssen, 1917 rückten drei Sozialdemokraten in den Stadtrat nach. „Bis Kriegsende gab es dann eine Zusammenarbeit von Stadt, SPD und Gewerkschaften“, erzählt Manfred Faust. „Durch das enge Vertrauensverhältnis zwischen Adenauer und dem SPD-Chef Wilhelm Sollmann haben sie auch gemeinsam die Novemberrevolution gemanagt.“ Seine erste Prüfung musste dieses Vertrauensverhältnis im „Steckrübenwinter“ 1916/1917 bestehen, als die Kartoffelernte misslang und der Hunger zu Streiks in den Kölner Munitionsfabriken führte, die von der SPD und Freien Gewerkschaften kontrolliert wurden. „Nachdem die Arbeitgeber sich unter dem Druck der Behörden nach langem Zögern endlich zu direkten Verhandlungen mit den Gewerkschaften bereit erklärten, wurden die Streiks schnell wieder beendet“, berichtet Manfred Faust. Für die Arbeiterbewegung war dies ein weiterer Schritt zur Anerkennung, denn Adenauer erklärte damals im Rat: „Ich gebe dem Kollegen Sollmann in allen Punkten recht.“
Der Erste Weltkrieg als Wiege des rheinischen Kapitalismus – obwohl diese Fakten seit langem bekannt sind, wäre es eine neue Perspektive auf die Jahre zwischen 1914-1918. Denn bislang wird der erste Weltkrieg als der Einschnitt, mitunter sogar das Ende eines bürgerlichen Weltbilds begriffen. Die Erfahrung des Grabenkriegs, Zehntausende Tote an der Somme oder der Einsatz von Giftgas führten dazu, das Bild des ‚ritterlichen‘ Soldaten zu begraben. Und der Einsatz von Frauen in der Fabrik führte zu einer Neuordnung von Geschlechterrollen.
Als „funktionales Gedächtnis“ bezeichnet die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann solche Vorgänge. Aus dem angesammelten historischen Wissen wird das ausgewählt, was für ein „kollektives Handlungssubjekt“ notwendig ist, um eine gemeinsame Vergangenheit konstruieren zu können. So ist es auch beim ersten Weltkrieg. Heute, inmitten der größten politischen Krise der EU findet der erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis in erster Linie als europäisches Ereignis statt. „Mitten in Europa“ lautet dann auch der Titel der großen LVR-Ausstellungsreihe zum Jahr 1914. Hier werden die Gemeinsamkeiten betont, zum Beispiel in der Erfahrung der Schützengräben. Auch die Rolle der Avantgarden und Künstler war in vielen Ländern ähnlich. Zu Beginn des Krieges herrschte zum Beispiel sowohl im deutschen Expressionismus als auch im italienischen Futurismus eine Kriegsbegeisterung. Und die Erfahrung der Schützengräben, des damals neuartigen Einsatzes von Giftgas oder Panzern wurden sowohl im englischen Sprachraum wie auch in Deutschland mit Romanen wie „Im Westen nichts Neues“ in realistischer Erzählweise beschrieben.
Aber nicht alle Gemeinsamkeiten werden gleichermaßen erinnert. Ein weithin vernachlässigter Aspekt des ersten Weltkriegs ist seine koloniale Dimension. Die Deutschen eröffneten eine Front in Ostafrika, wo sie erst nach dem offiziellen Waffenstillstand Ende November 1918 die Waffen niederlegen mussten. Und auf Seiten der großen Kolonialmächte England und Frankreich kämpften Soldaten aus den Kolonien in Afrika und Südostasien – sehr zum Entsetzen ihrer Gegner. „Die Deutschen konnten nicht verstehen, dass die Franzosen, die sich als Kulturnation verstanden, solche Barbaren in ihren Heeren duldeten“, erzählt Marianne Bechhaus-Gerst, Professorin für Afrikanistik an der Universität Köln. In Köln-Wahn wurden dunkelhäutige französische Soldaten gefangengehalten und zur Attraktion, von der Postkarten existierten und die deshalb misstrauisch beäugt wurde. „Eine mögliche Verbindung zwischen kölnischen Frauen und den Afrikanern war mit Angst besetzt“, berichtet Marinne Berchhaus-Gerst. Diese Ängste verschärften sich mit der Rheinland-Besetzung nach dem Weltkrieg noch. Als „schwarze Schmach“ bezeichnete man die dunkelhäutigen französischen Truppen damals, ein Ausdruck, der in der ehemaligen Kolonialmetropole Köln weit verbreitet war. Dabei war die Lage der Kolonialsoldaten im französischen Heer alles andere als einfach. Sie hatten ein eigenes Regiment und eigene Baracken – auch der Rassismus war damals ein europäisches Phänomen.
Wie aber geht man mit diesen Fakten um, die keinen Platz finden in der Erinnerung an den Weltkrieg? „Man muss ein Bewusstsein schaffen“, meint Marianne Berchhaus-Gerst. „Die wenigsten Deutschen wissen doch, dass der Krieg auch in den Kolonien ausgetragen wurde und auch Afrikaner für Deutschland kämpften.“ Und auch Manfred Faust fallen noch einige Fakten ein, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind: „Kaum jemand weiß, dass auch im ersten Weltkrieg schon sehr viele Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter hier in Köln waren“, und fährt fort: „Ich wünsche mir vor allem, dass man sich an das endlose Leiden in den Schützengräben und bei der hungernden Zivilbevölkerung in den Städten erinnert.“
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