2014 steht ganz im Zeichen des 100-jährigen „Jubiläums“ von „1914“. Im Windschatten des Großevents gibt es ein anderes, kleineres Jubiläum, das bis heute viel über Interpretationshoheit und Geschichtspolitik verrät. 1964 hatte das Goethe-Institut den deutschen Historiker Fritz Fischer zu einer Vortragsreise in die USA eingeladen, doch dann strich der damalige Bundesaußenminister Gerhard Schröder (CDU) die zugesagten Zuschüsse ersatzlos. Der Grund: Fischer galt unter der nationalkonservativen Historikerelite der bundesdeutschen 1960er Jahre als Nestbeschmutzer, denn er hatte einen Konsens in Frage gestellt. Fischer hatte mithilfe seiner Assistenten eine ausgiebige Quellenforschung über die deutsche Rolle beim Ausbruch des ersten Weltkriegs betrieben. Seine These bestand darin, dassDeutschland keineswegs in den Krieg hineingeschliddert war, wie es die Mehrheit seiner Kollegen damals vertrat. Vielmehr nutzte es den Konflikt mit Russland und Frankreich zum „Griff nach der Weltmacht“. Fischers Reise nach drüben wurde dann privat finanziert, seine Sicht ist inzwischen weithin akzeptiert. Allerdings: Fischer selbst hat nie von einer deutschen „Alleinschuld“ geschrieben, sondern dem deutschen Reich nur „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung“ angelastet. Für die Zuspitzung sorgte die veröffentlichte Meinung.
Wieder fünfzig Jahre später erregt die Medien erneut ein Buch über „1914“. Der in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark variiert in seinem zielgenau publizierten Titel „Die Schlafwandler“ die alte These. In seiner Sicht wird Deutschland entlastet, die Kriegstreiber waren eher Russland und Frankreich. Doch „eine Rangordnung der Staaten nach ihrem jeweiligen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch“ möchte auch er nicht aufzustellen. Gleichwohl gleicht seine Argumentation „verblüffend der deutschen Kriegsunschuld-Diskussion in den 1920er Jahren“, so der Düsseldorfer HistorikerGerd Krumeich. Damals hatte das Auswärtige Amt eine eigene Abteilung eingerichtet, deren einzige Aufgabe im Nachweis der deutschen Unschuld bestand.
Die Fakten sprachen freilich schon damals eine andere Sprache als die offizielle Propaganda und die von ihr entworfenen Bilder der Vergangenheit. Es darf also wieder eine Debatte geführt werden. Sinnvoll wäre es, dazu über die Bezeichnung des Ersten Weltkriegs als „Urkatastrophe“ der westlichen Welt zu streiten. Das Wort suggeriert etwas Schicksalhaftes. Doch Kriege brechen nicht wie eine Flutwelle über die betroffenen Gesellschaften herein. Es ist allemal sinnvoller, die nationalen und nationalistischen Interessen zu benennen, die dem bewaffneten Konflikt vorausgehen und ihn schließlich verursachen.
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