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Signaturetikett auf einem Archivkarton, in der Schuttsortierhalle in Porz-Urbach. Fotografie aus „Zeitraffer Waidmarkt – Bildarchiv 2004–2011“
Foto: © Eusebius Wirdeier

Blick in die Gedärme

06. Februar 2012

Bild-Dokumentation der Archiv-Katastrophe – Kunst in Köln 02/12

Es ist so, als würde man sich an einen Verstorbenen erinnern. Und tatsächlich gab es ja auch zwei Todesopfer, als am 3. März 2009 das Stadtarchiv am Waidmarkt in Köln einstürzte. Beim Betrachten der Fotografien von Eusebius Wirdeier erinnert sich jeder, der in diesem Stadtteil von Köln schon einmal gewesen ist, an die Zeit vor dem Einsturz des Archivs. Wirdeiers Fotobuch „Zeitraffer Waidmarkt“ zeigt uns noch einmal, dass es ein Vorher und ein Nachher gab. Ein schreckliches Ereignis, das in seiner ganzen Dimension noch nicht ins Bewusstsein der Kölner vorgedrungen ist. Auch wenn der Ort des neuen Archivs und sein architektonischer Entwurf schon ausgesucht sind, bleibt die Schockstarre über den Einsturz dieses gewaltigen materiellen Gedächtnisses einer Stadt, die einen nicht unbedeutenden Teil der europäischen Geschichte mitgeschrieben hat, noch deutlich spürbar.

Eusebius Wirdeier mag hingegen nicht wegschauen. Vielmehr blickt er mit dem wachen Interesse eines Arztes seit 2004 in die Gedärme der Domstadt. Damals begann der heute 62-jährige Fotograf entlang der Ausgrabungsstellen des vier Kilometer langen U-Bahn-Baus die Verwerfungen mit der Kamera zu dokumentieren. Ein Projekt, das auf schlagende Weise demonstriert, wie fruchtbar fotografische Langzeitbeobachtungen sein können. Wirdeier hatte sozusagen schon die dokumentarische Infrastruktur gelegt, mit der sich das Unerwartete dann im Bild erfassen ließ. Und das sogar mit einem makabren Unterton, den die Wirklichkeit selbst schrieb. So prangten genau vier Jahre vor dem Einsturz auf der Fassade des Archivs noch die Lettern einer publizistischen Aktion, in der Jens Hagen und Günter Wallraff die denkwürdige Drohung ausgestoßen hatten: „was wollt ihr denn, ihr lebt ja noch“.

Unter die Haut geht gerade jener in seiner Klarheit unsentimental konstatierende Kamerablick, der die Karnevals-Jecken wenige Tage vor dem Einsturz auf dem Waidmarkt zeigt und der dann seinen Focus auf die Trümmer oder die Menschen wirft, die während der Gedenkfeier an gleicher Stätte zusammenkamen. Ohne einen Kommentar, nur mit Bildbeschriftungen prallt man beim Betrachten auf die doppelseitigen Fotografien. Diese Wucht provoziert ein zweites und drittes Betrachten, ein Sog entsteht, mit dem uns Wirdeier in das Geschehen unter der Erde hineinzieht.

Im Grunde ist der Blick unter die Erde, in solch gigantische Ausgrabungs-Szenarien, für einen Fotografen ein undankbares Sujet. Wirdeier versteht jedoch genau diese Situation als Herausforderung, nicht Schönheit und Ebenmaß lockt ihn, sondern der Blick in das Chaos und das ungeschlachte Reale, das keine Form besitzt, aber unerhört lebendig wirkt. So muss man denn auch immer wieder zurück zu dieser verstörenden Bildserie, die auf beispiellose Weise ein Stück jüngster Vergangenheit festhält. Denn die Bilder beweisen, dass es sich hier nicht um einen bösen Spuk handelt, sondern die Katastrophe das Ergebnis von städtischen Strukturen darstellt, die auch in unserer Gegenwart noch am Werk sind.

Eusebius Wirdeier: Zeitraffer Waidmarkt | Bildarchiv 2004 – 2011 | Verlag der Eusebius-Werke Köln | 24 Euro | www.eusebius-wirdeier.de

Thomas Linden

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