Montag, 7. März: Es klingt schon ambitioniert, was der seit März 2015 als Bürgerinitiative vorbereitete Ernährungsrat für Köln und Umgebung sich zum Ziel gesetzt hat: Produktion und Konsum von Nahrungsmitteln ökologischer, nachhaltiger und gerechter zu machen. Für Dokumentarfilmer Valentin Thurn (52), der in Filmen wie „Taste the Waste“ und „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?“ globalen Fragen der Ernährung nachgegangen ist, zeichnet sich der Kölner Jetzt-Zustand dadurch aus, dass „die Entscheidung, was wir essen, wie es angebaut wird, immer weiter weg von uns fällt: in der Politik von Berlin nach Brüssel, und wenn wir jetzt TTIP haben, dann wird es transatlantisch“. Überregionale Entscheidungen seien etwa bei Schadstoff-Grenzwerten sinnvoll, Kommunen könnten aber beispielsweise bei der Flächennutzung oder in der Schulpolitik ihre Zuständigkeiten für eine bessere Ernährung nutzen und auch bei der Direktvermarktung von Lebensmitteln aus der Region etwas tun. Im Supermarkt kämen fünf Prozent der Lebensmittel aus der Region, und selbst der Wochenmarkt sei längst kein Garant mehr für eine ortsnahe Erzeugung. Es gäbe eigentlich keine Kommune mit einem „Gesamtkonzept“ in Sachen Ernährung.
Das trifft nicht zuletzt auf Köln zu, wenn auch Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die von Thurn die eingerahmte Gründungscharta des Rates in Empfang nahm, in ihrer Eröffnungsrede in der Rathaus-Piazetta auf den im letzten Oktober von Köln mitunterzeichneten Urban Food Policy Pact verweisen konnte sowie auf diverse Einzelmaßnahmen, die ein schon vor ihrer Amtszeit gewachsenes Interesse der Stadtverwaltung an Themen wie Urban Gardening und dem Essen in Schulen bezeugten. Sie lobte und identifizierte sich mit den Grundanliegen der Initiative und verwies dabei sowohl auf die vielen Arbeitsplätze in der Region, die dem Bereich Ernährung zuzurechnen seien, als auch auf das Thema „Ernährungssicherheit“, das bei uns noch eine relativ untergeordnete Rolle spiele. Es gelte generell, die landwirtschaftlichen Betriebe zu stärken: „Wenn die Mitglieder des Ernährungsrates sich selbst besser und die anderen mit ihnen vernetzen, dann ist das eine ganz gute Voraussetzung, dass wir, so breit aufgestellt, das Bewusstsein für unsere Ernährung so fördern, dass es uns allen nützt.“
Breit aufgestellt heißt: Der Ernährungsrat besteht aus Mitgliedern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung: aus Köchen, Landwirten (bio und konventionell), Lebensmittelhändlern, Metzgern, Gärtnern, Forschern, Gastronomen, Verwaltungsangestellten, Konsumenten und anderen, die gemeinsam haben, dass sie sich täglich mit Ernährung befassen und Expertise aus ihrem Bereich mitbringen. Thurn: „Das waren alles Leute, die in ihrem kleinen Bereich festgestellt haben, ja, unser Ernährungssystem geht vor die Hunde.“ Den Wortbeiträgen von Mitgliedern konnte man entnehmen, dass es bei den Treffen und Betriebsbesichtigungen zu lebhaften Diskussionen kam und jeder schnell ein Interesse für die ihm oder ihr sonst verschlossenen Bereiche des Themas entwickelte.
NRW-Umwelt- und Verbraucherschutzminister Johannes Remmel erklärte, sich auf die Zusammenarbeit mit dem Ernährungsrat zu freuen, als einer „Bewegung von unten“ und einer „gesellschaftlichen Innovation“. Er warb für die verstärkte Direktvermarktung regionaler Lebensmittel im Rahmen der Initiative Taste of Heimat e.V., die den Ernährungsrat ins Leben rief. Valentin Thurns Doku „Taste the Waste“ sei „politisch spürbar“ gewesen. Noch immer würden bei uns 11 Mio. Tonnen oder ein Drittel der Lebensmittel im Müll landen, außerdem gingen, so Remmel, nur 45 Prozent der Getreideernte in die Ernährung, der Rest werde zu Futtermitteln und Energie. Auch er sprach von den landwirtschaftlichen Betrieben im „drittgrößten Agrarland“ der Republik:
„Wir haben zwar gute Entwicklungen im Bio-Bereich, aber es ist mir sehr fremd, mit Häme auf den konventionellen Bereich zu schauen. Da brennt in der Tat zurzeit der Baum. Wenn ein Liter Milch unter 25 Cent gehandelt wird, wenn der Schweinepreis bei 1,20 oder 1,30 Euro liegt, dann ist das kein Auskommen für unsere Landwirtschaft hier. Dann bedeutet das, dass wir nicht nur Strukturwandel haben werden, sondern Strukturbrüche. Und in zehn Jahren werden wir uns umschauen und bäuerliche Familienbetriebe werden verschwunden sein. Dagegen steht ein Preis für ein Liter Bier beim Oktoberfest von 10 Euro. Wie verkommen sind wir eigentlich? Gute Lebensmittel haben und müssen ihren Preis haben, damit die Menschen, die damit arbeiten und sie erzeugen auch davon leben können.“ Viele Erzeuger mit Familien kämen nicht einmal auf den gesetzlichen Mindestlohn und könnten daher nicht „zukunftssicher den Betrieb führen“. (Wie Valentin Thurn später anmerkte, hätten in den letzten 15 Jahren ein Drittel der Bauernhöfe „dicht gemacht“.)
Die „ambitionierten“ Ziele Ernährungsrates würden, so Remmel, öffentlich wirksam die Wertschätzung für Lebensmittel fördern. Es habe eine „Explosion“ an Initiativen und Netzwerken gegeben, die er beim Straßenfestival „Köln isst gut“ im September mehr „ausstellen“ wolle, wenn Köln „die Hauptstadt des guten Geschmacks“ werde. Es solle ein Aufbruchssignal senden und hoffentlich Tradition werden. Diese seinerseits ambitionierten Pläne des Ministers, die in der Schweiz und Berlin teilweise schon praktiziert würden, waren noch nicht publik, nur die Mitglieder des Ernährungsrates hatten schon Interesse bekundet, daran mitzuwirken.
Wie Remmel, der auf die Möglichkeit verwies, 12 Milliarden Menschen zu ernähren, lag es Valentin Thurn besonders am Herzen, globale Gerechtigkeit mit in den Fokus der Arbeit des Rates zu nehmen. „Ich finde, man muss darüber reden, dass das 2,99-Euro-Hühnchen im Supermarkt – es wurde mit Soja gefüttert, dafür wurden Kleinbauern vertrieben, dafür wird Regenwald abgeholzt – dafür mitverantwortlich ist, dass Hunger in unserer Welt entsteht.“
Das immer wieder fallende Wort „Wertschätzung“ bezog sich für alle auch auf die Ernährungsgewohnheiten. So wies Reker darauf hin, dass es zwar „immer mehr Kochsendungen im Fernsehen gibt, aber auch immer mehr ungenutzte Küchen“. Thurn zitierte die Gesellschaft für Konsumforschung, die berechnete, dass in Deutschland nur noch durchschnittlich 29 Minuten am Tag für die Essenszubereitung aufgewendet würden. „Die Amerikaner verwenden 27, also so weit sind wir gar nicht weg von ihnen. Es ist also wirklich so, dass die Fähigkeit, selbst Nahrung zuzubereiten, abnimmt. Wenn wir das nicht mehr können, dann brauchen wir uns auch nicht mehr mit regionaler Ernährung zu befassen, dann wird die Nahrung irgendwo aus weit entfernten Fabriken kommen.“ Für Thurn kommt – genauso wie Reker – der Bildung eine wichtige Rolle zu. „Wenn die Eltern ihren Kindern schon nicht mehr das Kochen beibringen können, dann müssen wir schauen, was können wir in den Schulen machen?“
Der Kölner Schauspieler Severin von Hoensbroech untermauerte die Gedanken des Abends mit einer leidenschaftlichen Rede über die destruktiven Auswirkungen industrieller Landwirtschaft, sprach über die kurzfristige Kultivierung von Wüsten in Saudi-Arabien in den 90ern und die problematische Idee, mit mineralischem Stickstoff dem Wachstum von Getreide nachzuhelfen, nur um dann etwa auf Kosten der Biodiversität mit Pestiziden und Herbiziden die Probleme auszuschalten. Zudem gase der Mineraldünger als Stickoxid beim Umpflügen aus oder gehe in die Meere: „Er wird nur zu etwa 30 bis 50 Prozent von der Pflanze aufgenommen.“ Außerdem würden bei der Herstellung des Düngers ungefähr 320 Liter Mineralöl pro Ausbringungs-Hektar verbraucht. Von den Effekten auf das Klima sei allerdings in Paris keine Rede gewesen. Er verwendete die Studie „Planetary Boundaries“ (Nature 09/2009), um am Beispiel des Stickstoff-Phosphor-Kreislaufes deutlich zu machen, dass die Natur nur als Gesamtsystem richtig funktioniere. Selbst das Flüchtlingsproblem sei mit auf Wasserverteilung in Syrien zugunsten des Exports zurückzuführen, was in den letzten Jahren zu einer Landflucht geführt habe. „Was wir brauchen, ist eine gute und nachhaltige Landwirtschaft.“
Wenn der dreißigköpfige Ernährungsrat spätestens im Mai das erste Mal tagt, wird auch Henriette Reker wieder dabei sein, die ihm am Abend auf Anfrage Valentin Thurns hin beitrat. Zu besetzen blieben noch sieben weitere Plätze aus dem Bereich der Verwaltung von Köln und Umland. Vier ebenfalls von Moderatorin Anke Bruns vorgestellte Ausschüsse mit je zwei gewählten Vertretern im Ernährungstrat bestehen schon seit dem Vorjahr und befassen sich mit den Themen Regionale Direktvermarktung (Peter Schmidt vom Klosterhof Bünghausen in Gummersbach: „alte Wege verbessern, neue Wege finden“), Ernährungsbildung und Schulverpflegung (Peter Zens vom Erlebnisbauernhof Gertrudenhof in Hürth: „Erlebnisse und Sinnlichkeit statt erhobener Zeigefinger“), Veranstaltungen (Diplom-Kaffee-Sommelier Michael Gliss: „Verbraucher erreichen“) und Urbane Landwirtschaft / Essbare Stadt (Dorothea Hohengarten von den NeuLand-Gärten: „vielfältige Ernährung auch mitten in der Stadt“).
Ein konkretes Ziel, das Thurn nannte, sei es, den Anteil regionaler Lebensmittel in Köln erst einmal auf 10 Prozent zu verdoppeln. Mehrfach wurde als Modell auf die Food Assembly in Ehrenfeld Bezug genommen. Während sonst vieles noch vage blieb, sah es doch so aus, dass bei dieser Idee genug Gleichgesinnte an einem Strang ziehen und wohl auch durch Thurns aufklärende Filme ausreichend äußeren Rückhalt gefunden haben, um einigen unvernünftigen Ernährungstrends koordiniert entgegenzuwirken.
Ernährungsrat Köln | www.ernährungsrat-köln.de
Kurzvideo „Warum Ernährungsräte?“ | www.inkota.de/themen-kampagnen
Taste of Heimat e.V. | www.tasteofheimat.de
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