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Kölsche Gelassenheit trotz „Stay Home“-Realität: Wolfgang und Reinhard Voigt
Foto: privat

„Das Tor zur Welt“

06. Mai 2020

Voigt & Voigt veröffentlichen ein Technoalbum über die Mülheimer Brücke – Popkultur 05/20

Die Brüder Reinhard und Wolfgang Voigt, Kölner Technoproduzenten von Weltrang und Gründer beziehungsweise nun schon seit fast 25 Jahren Miteigner des Labels, Vertriebs und Plattenladens Kompakt, haben mit dem Album „Mülheim Deluxe“ eine ihrer seltenen Kooperationen veröffentlicht. Das Interview wurde wegen der aktuellen Situation per E-Mail geführt.

choices: Vor fünf Jahren habt ihr die Maxi „Mülheim Deluxe“ veröffentlicht. Die Musik war nur bedingt cluborientiert, mit seinen neutönerischen metallischen Sounds, die an Stahlträger und Stahlseile erinnern, also fast Programmmusik zu einer Hängebrücke sind. Oder seht ihr die Musik doch im Club?

Wolfgang Voigt: Wir sehen das als „Programmmusik zu einer Hängebrücke im Club“. Auch wenn die Musik nicht viel gemeinsam hat mit dem allgegenwärtigen MinimalTechno Mainstream, so ist dieBassdrum doch gerade - und darauf kommt’s an. Was Clubmusik ist und was nicht, ist für uns nach wie vor vor allem ein Frage der Haltung, auch oder gerade weil sowas heutzutage kaum noch ein „DJ“ spielen würde.

Reinhard Voigt: Und es ist schön, sich von dem Gefühl zu befreien, sich zu fragen: Ist das „spielbar“ im Club oder nicht ? Früher hat man sich bei der Arbeit im Studio viel stärker mit dieser Frage belastet. Heute sind wir da sehr viel befreiter. Es geht wirklich in erster Linie um die kreative Energie, um die Musik und den Spaß daran. Frei von Erwartungen oder stilistischen Einschränkungen.

Jüngst erschien digital eine Extended Version als Album mit vier weiteren Stücken, die an unterschiedlichste Stellen eures Werks anknüpfen, so zum Beispiel „Der Keil war nicht umsonst“ an „Der Keil NRW“ von eurem ersten gemeinsamen Album „Die zauberhafte Welt der Anderen“. Wie würdet ihr den Zusammenhang des Bundles beschreiben?

RV: Zunächst möchte ich kurz erklären, „Der Keil" ist unsere Bezeichnung für Kater/Kopfschmerzen. Wir gehen oft erst abends ins Studio und beflügeln die Kreativität gerne auch mit ein paar Bier. Das Arbeiten an eigener Musikfließt in Studionächten zunehmend auch in die Partystimmung und eine gewisse Art von „Livemusik“. Das bringt oft die besten Ergebnisse. Natürlich muss die Musik auch am nächsten Tag der „nüchternen“ Betrachtung standhalten. Der Titel „Der Keil war nicht umsonst“ beschreibt das sehr gut.

WV: Genau, und Zusammenhang zwischen unseren gemeinsamen Projekten besteht irgendwie immer, auch wenn sie sich im Einzelfall in Bezug auf Sound und Konzeptvorlieben unterscheiden. Und in der Tat verweist das Stück „Der Keil war nicht auf umsonst“ auf unser Stück „Der Keil NRW“ von unserem Album „Die zauberhafte Welt der Anderen“. Dieses ist übrigens auch gerade in einer klanglich überarbeiteten Version zum exklusiven Download bei Kompakt neu veröffentlicht worden.

Ihr seid im Rechtsrheinischen aufgewachsen. Um in die Kölner Innenstadt zu kommen, musstet ihr über eine Rheinbrücke. Welche Bedeutung hat die Mülheimer Brücke also für euch persönlich?

WV: Na ja, die Mülheimer Brücke war für unsgewissermaßen das Tor zur Welt, bzw. in die linksrheinische Innenstadt. Aber wie bei alle Brücken, ein Tor in zwei Richtungen.

RV: Wie viele Großstädte wird auch Köln durch einen großen Fluss in zwei Hälften getrennt. Ein großer Fluss braucht große Brücken und das gefällt mir sehr am Stadtbild von Köln. Und zum Glück gab es nie einen Grund von der Brücke zu springen.

Auch wenn einiges dafür spricht, dass ihr einfach mal wieder eine gute Zeit im Studio verbringen wolltet: Kann man ‚Deluxe‘ als Anspielung auf Veränderungen von Mülheim im Sinne einer Gentrifizierung oder eines kulturellen Wandels – Stichwort Schauspielhaus, Filmschule, Proberäume – verstehen? Im Pressetext wird ja sogar eine verwegene Analogie zu Brooklyn gezogen …

RV: „Mülheim Deluxe“ klingt vor allem gut finde ich. Wie ein Bandname. Auch haben wir ja hier bei Kompakt eine gewisse Tradition, einen gewissen Stil, was solcherlei Namensgebungen betrifft. Was nicht immer jeder gleich versteht... :)

WV: Natürlich bekommen wir die von dir erwähnten strukturellen Veränderungen in unserer Stadt mit. Wir haben das Ganze aber immer eher mit einer gewissen kölschen Gelassenheit und Humor betrachtet. Ebenso wie den verwegenen Verweis auf die Brooklyn Bridge.

Wolfgang, fast zeitgleich erscheint ebenfalls digital only der gesamte Katalog deines sehr konzeptuellen Labels Protest mit 30 Tracks und über 200 Minuten Laufzeit. Im Herbst hast du bereits 303 Stücke aus deinem Backkatalog der 90er Jahre zugänglich gemacht. Wie kommt es zurzeit zu diesem „Alles muss raus“-Gestus?

WV: „Alles muss raus“ klingt gut. Über die Jahrzehnte hat sich, was meine persönliche, zugegebenermaßen sehr große und unübersichtliche Diskografie betrifft, ein sehr breit verteilter Flickenteppich ergeben. Auch hatte ich irgendwann Lust, insbesondere das mittlerweile schon fast antike Zeug aus den Neunzigern nochmal klanglich optimiert und chronologisch sortiert verfügbar zu machen. Und auch der Protest-Katalog war bisher nie komplett digital erhältlich. Nun gibt’s das alles frisch aufpoliert wieder zum exklusiven Download bei Kompakt. Weitere Ausgrabungen aus der kompakt'schen Schatzkiste werden folgen, zum Beispiel von Reinhard Voigt die „Kultur“-EP und das „Premiere World“-Album …

Die Veröffentlichung von „Mülheim Deluxe“ habt ihr in einem Video mit dem Slogan „Make download great again“ beworben. Welche Position nimmt die digitale Veröffentlichung aktuell neben der Vinylproduktion bei Kompakt ein? Sind digital-only Veröffentlichungen in der aktuellen, von Corona dominierten Situation auch ein guter Weg, das Business am Laufen zu halten?

WV: Digitale Downloads können auch heute noch unsere Vinyl-Veröffentlichungen verkaufstechnisch wirksam flankieren. Aufgrund der sehr überschaubaren Gewinnspannen in diesem Bereich bieten wir das aber zunehmend wieder exklusiv über uns bei Kompakt direkt an. Unser natürlich nicht ganz ernst gemeinter Slogan „Make Download Great Again“ kommentiert diese eher trockene Musikmarkt-Realität auf selbstironische Weise….

RV: Und diese „Download-Empfehlung“ unsererseits nimmt natürlich auch Bezug auf die derzeitige „Stay Home“-Realität, die alle betrifft. „Bleib zu Hause, lad dir Musik runter, mach dein Wohnzimmer zum privaten Club. Prost!“

Digitale Alben: Voigt & Voigt: Mülheim Deluxe 1 | Reinhard Voigt: Kultur E.P. | Reinhard Voigt: Premiere World | Kompakt

Interview: Christian Meyer-Pröpstl

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