Das Mittelalter ist wieder da. Der britische Arzt Henry Marsh führt seit einigen Jahren Gehirnoperationen durch, die die Patienten bei vollem Bewusstsein durchleben. „Awake Craniotomy“ heißt die neue Operations-Methode, bei der der Autor Karl Ove Knausgaard dabei sein durfte und die er im New York Times Magazine beschrieben hat: „Die Schädeldecke wird geöffnet. Darf ich noch rauchen? Wie haben Sie geschlafen? Nadeln, Elektroden werden eingesetzt. Wie geht es Ihnen? Spüren Sie etwas? Können Sie Ihren Arm heben? Was spüren Sie jetzt? Haben Sie Angst?“ Der Essay hat die Gruppe subbotnik um Kornelius Heidebrecht, Oleg Zhukov und Martin Kloepfer derart fasziniert, dass sie daraus den Musiktheaterabend „Keep the wolf from the door“ gemacht haben, der eine Expedition in die Sphären eines skalpellierten Bewusstseins unternimmt.
Auf eine völlig andere Expedition begibt sich die Gruppe Futur3 in ihrer neuen Produktion „Shit Island“. Sie führt auf die Insel Nauru im Pazifik, die zwischen 1888 und 1918 zum deutschen Kolonialbesitz gehörte. In dieser Zeit wurden dort gewaltige Phosphatvorkommen entdeckt, die Naura nach seiner Unabhängigkeit zum zweitreichsten Staat der Welt machten – bis die Ressource völlig abgebaut war und die Insel auf den Status eines Entwicklungslandes zurückfiel, weil das Vermögen nicht gewinnbringend angelegt worden war. Heute gelten achtzig Prozent der Bevölkerung als fettleibig aufgrund von falscher Ernährung. Eine Insel im Schleudertrauma des Kapitalismus, dessen brutale Nachwirkungen bis heute nichts an ihrer zerstörerischen Kraft verloren haben.
Zu einer dritten Expedition nimmt schließlich Regisseur Jan Neumann die Zuschauer in den Kammerspielen in Bonn mit. Die Reise führt nach „Unterleuten“, einem fiktiven Dorf in Brandenburg, das die Autorin Juli Zeh in ihrem gleichnamigen Roman beschrieben hat. Ein Dorf, das quasi exemplarisch die Zeitmaschine von Enteignung, Zwangskollektivierung, Mauerfall, Nachwendezeit, Privatisierung durchlaufen hat. Zeiten, die Wunden geschlagen und Feindschaften hinterlassen haben. Zum Beispiel die zwischen dem früheren LPG-Vorsitzenden Rudolf Gombrowski, der eine GmbH aus dem früheren Staatsbesitz gemacht hat, und dem früheren SED-Repräsentant der LPD Kron, der sich in die Scheinwelt der Verschwörung geflüchtet hat. Dazu stoßen zwei Aussteigerpaare aus Berlin und ein Unternehmensberater aus München, der Land als Kapitalanlage versteht. Nicht fehlen dürfen natürlich Investoren für einen Windpark. Wer sich heute fragt, warum viele Menschen im Osten von der Linken zur AfD gewechselt sind, findet hier Antworten: westliche Arroganz, Profitmaximierung, versagte Anerkennung für eine Lebensleistung, Neid, mangelnde Solidarisierung, ein brutaler Strukturwandel, Opferkult – es gibt viele Gründe, die in eine abgrundtiefe Enttäuschung führen.
„Keep the wolf from the door“ | R: subbotnik | 3.-7.11. 20 Uhr | Studiobühne | 0221 470 45 13
„Shit Island“ | R: Futur3 | 18.(P), 19., 21.-25.11. 20 Uhr | Orangerie | 0221 952 27 08
„Unterleuten“ | R: Jan Neumann | 23.11.(P) 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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