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Anja Schlamann in den Rollen Georg, Bernd und Walter
Foto: Anja Schlamann

Selbstporträt in fremder Haut

07. November 2017

„ErSieundIch“ von Anja Schlamann im Fotoraum Köln – Kunst 11/17

Gefragt, wie es ihm möglich sei, sich in seinem Roman „Madame Bovary“ so empathisch in die Perspektive einer Frau hineinzudenken und so empathisch über ihre Befindlichkeiten zu schreiben, begegnete der französische Schriftsteller Gustave Flaubert den Fragestellern seinerzeit nicht mit Abhandlungen über Fiktionsverträge oder künstlerische Freiheit, sondern meinte nur: „Madame Bovary, c'est moi.“ – „Madame Bovary, das bin ich.“ Gestern wie heute nehmen sich Künstler narrativer Kunstformen das Recht, ihr fiktives Personal über die Grenzen von Ethnie, Klasse und Geschlecht hinaus zum Spiegel und Sprachrohr ihrer eigenen Gedankenwelt zu machen.

Ein Recht, von dem auch Fotografin Anja Schlamann im Rahmen ihres narrativen Fotoprojekts „ErSieundIch“ Gebrauch machte. Nahm sie schon in der Vergangenheit sowohl vor wie auch hinter der eigenen Linse Schlüsselrollen ein, nimmt sie diesmal gleich drei Hauptrollen als Modell und schlüpft in die Haut ihres Bruders. Ein Genderswitch innerhalb der Familie wäre gewiss nichts Besonderes, wenn ihr Bruder nicht bereits vor 40 Jahren im Säuglingsalter verstorben wäre. Eine Zäsur in ihrem Leben, die sie über die Jahre begleitete. „Ich war damals sieben und obwohl mir die Trauer durchaus präsent und nachvollziehbar war, war der Verlust doch auch sehr abstrakt. Mit drei Monaten, so alt war mein Bruder, als er verstarb, gibt es nicht viel Persönlichkeit, mit der man viel verbinden und die man vermissen kann. Man weiß nur, dass jetzt etwas, was da sein könnte, nicht da ist.“ So ganz ließ sie die Frage, was für ein Mensch er geworden wäre und welche Lebenswege er eingeschlagen hätte, dennoch nicht los. Die Frage, wo er heute stünde, kulminiert nun in dem Projekt, das bis zum zehnten Dezember im Lindenthaler „Fotoraum“ in der Herderstraße ausgestellt wird.


Anja besucht ihren Bruder Georg, Foto: Anja Schlamann

Drei Lebensläufe werden skizziert. Mit simplen doch effektiven Verkleidungen, die auf allzu große Make-Up-Spielereien verzichten und sich in der Regel auf Körpersprache und Garderobe reduzieren, war es dabei nicht getan, und so vertiefte sich Schlamann im Rahmen ihrer Vorbereitung in die Ausarbeitung mehrerer detailliert ausgefallener Lebensläufe, die stets etwas mit Leben und Werdegang der Künstlerin selbst zu tun haben. Ganz gleich, ob sie nun in die Rolle des Landwirts Georg, des zugeknöpft auftretenden Beamten Walter oder des in großstädtischer Anonymität (und auch Einsamkeit) lebenden Ingenieurs Bernd schlüpft, gibt sie doch immer etwas von sich selbst preis und liefert – je spezifischer ihre Beschreibungen der Brüder in spe dabei werden – ein immer präziseres Porträt ihrer selbst ab. „Die drei Biografien, in die ich hier schlüpfe, haben alle etwas mit mir zu tun“, sagt Schlamman. „Ich selbst bin beruflich Ingenieurin, unser Vater war Beamter, und die Arbeit auf dem Bauernhof, das war für mich in der ganzen Erdverbundenheit immer auch eine Sehnsucht. Der Hof, wo Georg, der Bauer, arbeitet, ist wie auch die Heimat von Walter, dem Beamten, in meiner westfälischen Heimat zu finden, mit der ich viel verbinde.“ So sind neben den Fotos aus den Leben ihrer „Brüder“ immer wieder Schnappschüsse Westfalens eingestreut, die nie ins Touristisch-Lokalpatriotische gehen, sondern stets an melancholische Seelenlandschaften gemahnen. Ob es wirklich ein Grund zum Jubel ist, dass Walter und Georg es nie von hier weggeschafft haben, bleibt offen.


Der Ingenieur Bernd, Foto: Anja Schlamann

Einzig Ingenieur Bernd hat der Heimat, ähnlich wie Schlamann selbst, den Rücken gekehrt und sich dem Leben in der Stadt zugewandt. Auf einem der Bilder sieht man ihn im Riphahn-Lokal am Apostelnkloster sitzen und versonnen hinaus auf die Hahnstraße schauen. Auch ihn umgibt ein Hauch von Schwermut. Hin und wieder nimmt Schlamann auf den Fotos auch Doppelrollen ein, wenn sie (als sie selbst) ihre Brüder besucht und mit ihnen über dieses und jenes spricht.

Zwischen den Fotografien, die die Wände des Fotoraums schmücken, sind auch Interviews angebracht, die sie mit den verschiedenen „Inkarnationen“ der Bruderrolle geführt hat. Besprochen werden unterschiedlichste Themen. Während sie mit Walter, dem in ihrem gemeinsamen Geburtsort Bocholt gebliebenen Beamten viel über Finanzen und das Für und Wider fester und selbstständiger Arbeit spricht, spricht sie mit Kölner Bernd oft über Einsamkeit und Bindungsängste. Bauer Georg, ein einfacher Kerl, beschreibt derweil seinen fest getakteten und ganz auf die Erledigungen auf dem Gehöft zugeschnittenen Alltag. Er scheint glücklich zu sein auf dem Lande, obwohl auch hier  von Entbehrungen und monotonen Tagen die Rede ist. Auch wenn an den Rändern ihrer Geschichten immer wieder Unzufriedenheiten und Melancholie ins Auge stechen, hat Schlamann ihren fiktiven Brüdern doch jedem für sich ein kleines Glück gegönnt, das ihrem realen Bruder nicht zu erleben vergönnt sein sollte.

Viel mehr als eine Auseinandersetzung echten oder erdachten Brüdern, ist ihre Arbeit am Ende doch eine Form des Selbstportraits geworden. „Georg, Bernd et Walter, c'est moi.“

Anja Schlamann: ErSieundIch | bis 10.12., So 16-18 Uhr | Fotoraum Köln, Herderstr. 88 | 0221 43 25 78

Robert Cherkowski

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