In rasantem Tempo verändert die Digitalisierung die Art, wie wir Medien nutzen, wie wir kommunizieren und uns informieren. Für die Demokratie bringt das neue Möglichkeiten, aber auch Gefahren. Ob sich die Digitalisierung als Fluch oder Segen erweist, wird maßgeblich davon abhängen, ob wir lernen, mit den neuen Medien gut umzugehen. In Estland läuft hier schon mal einiges richtig – aber Schwierigkeiten bleiben.
Das Open Society Institute in Sofia bewertet jährlich den Media Literacy Index verschiedener europäischer Länder. Grundlage sind die Pressefreiheit, PISA-Ergebnisse sowie der Anteil der Bürgerinnen und Bürger mit Universitätsabschluss. Aber auch das generelle Vertrauen der Bevölkerung und der E-Participation Index der Vereinten Nationen werden berücksichtigt. Mit einer Punktzahl von 72 landet Estland nur knapp hinter den Spitzenreitern Finnland und Dänemark. Kein anderer EU-Staat hat in den vergangenen Jahren so stark aufgeholt. Wie konnte das der ehemaligen Sowjetrepublik gelingen?
Digitaler Fortschritt in der Bildung
In Sachen E-Partizipation kann Estland als einziges europäisches Land mit der Bestnote glänzen. Dabei geht es darum, die Bürgerinnen und Bürger durch das Internet am politischen Prozess zu beteiligen. In Estland ist dazu eine wichtige Grundbedingung erfüllt: Laut Standard Eurobarometer 2020/2021 gaben 98 Prozent der Befragten an, täglich oder fast täglich das Internet zu nutzen, so viele wie sonst nur in Portugal. Auch das Vertrauen in das Internet ist laut Eurobarometer in Estland höher als in fast allen anderen EU-Staaten. Die estnische Bevölkerung scheint in der neuen Welt angekommen zu sein.
Aber die gute Platzierung im Media Literacy Index Ranking verdankt das Land auch seinen hervorragenden PISA-Ergebnissen. Diese sind wiederum das Resultat einer Digitalisierung, die im Klassenzimmer beginnt: Interaktive Tafeln, digitale Klassenbücher und Unterrichtsmaterialien, Medienkompetenzen im Curriculum – das alles ist in Estland längst schon selbstverständlich.
Wieso ist in Estland möglich, was in Deutschland immer noch ein Kampf gegen Windmühlen zu sein scheint? Die Esten seien einfach pragmatischer, hätten immer sofort Lösungsansätze im Blick, sagt die Historikerin Kristina Kalas von der Uni Tartu im Interview mit dem Deutschlandfunk. „Dieses Digitale ist inzwischen Teil unserer DNA, könnte man sagen. Es ist unumkehrbar, es verschafft uns einen Platz auf der Weltkarte – und das ist immens wichtig für ein kleines Land wie Estland, das kein Öl oder andere Rohstoffe hat.“
Das Internet als politische Plattform
Das schlägt sich auch in einer diversen Medienlandschaft nieder, in der das Internet schon längst seinen festen Platz hat. Besonders beliebt ist das Nachrichtenportal Delfi, das in Estland, Lettland und Litauen sowohl in der jeweiligen Landessprache als auch auf Russisch berichtet. Schon vor fünf Jahren zeigte eine Umfrage des Eurobarometers, dass über die Hälfte der Menschen in Estland die Seite als ihre Hauptinformationsquelle nutzte. Aber auch kleinere Portale konnten sich in den letzten Jahren ihre Nische sichern. Ein Beispiel ist der liberal orientierte Blog Politika.Guru, der mit seinen politischen Analysen und Kommentaren inzwischen über 500.000 Menschen erreicht. Eine solche Diversität ist nicht selbstverständlich für ein Land, das in Zeiten der sowjetischen Besatzung massiven Repressionen ausgesetzt war und dessen Medien bis 1988 vor allem zu Propagandazwecken missbraucht wurden.
Aber auch Estland hat mit den Geistern unserer Zeit zu kämpfen. Schon lange gibt es eine Spaltung zwischen estnisch- und russischsprachiger Öffentlichkeit und der allgemeine Ton hat sich verschärft, seit 2019 die rechtspopulistische Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) ins Parlament eingezogen ist. Beleidigungen gegenüber der Presse haben zugenommen und die Pandemie hat den Druck weiter erhöht – die Anzeigenverkäufe sanken und in der Folge auch die Gehälter.
Ob eine internetaffine Bevölkerung und medienkompetente Schulen am Ende wirklich dazu beitragen, diese Belastungen auszuhalten und die Fallstricke der modernen digitalen Öffentlichkeit zu überwinden, werden die nächsten Jahre zeigen. In Estland, in Deutschland und in ganz Europa.
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