Schon ein erhebender Anblick. Da quillt eine schier unübersehbare Menschenschlange, 180 Chorsänger, durch zwei enge Türen auf das Podium des vor einigen Jahren wunderschön restaurierten Palais am Park in der Flora Köln, dem botanischen Garten mit 10.000 einheimischen und exotischen Pflanzen. Ein guter Ort für ein großes Konzert mit europäischen und südamerikanischen Wurzeln. Eine lateinische Messe, traditionell in der katholischen Kirche verwurzelt, komponiert mit Tango-Musik aus Argentinien: Die „Misa a Buenos Aires“ von Martín Palmeri.
Der Tango ist immerhin Weltkulturerbe und in jedermanns Ohr, und der Messetext ist von europäischen musikalischen Schwergewichten wie Mozart, Haydn oder Cherubini, aber auch von Neutönern wie Arvo Pärt und Hans Werner Zimmermann vertont worden. Die Bonner Sängerin Guadalupe Larzabal, Vorsitzende der Deutsch-Hispanoamerikanischen Gesellschaft LiberArte Bonn, hat das in Argentinien sehr beliebte Werk erstmalig nach Deutschland geholt und dazu gleich 22 bereits vorgeschulte Chöre aus Deutschland, Spanien, Norwegen und sogar einen aus Argentinien eingeladen. Ein ganz erheblicher logistischer Kraftakt. Vier Tage gab es Intensivproben im Rahmen eines Chor-Festivals in Siegburg, und dann das ersehnte Highlight, das natürlich ausverkaufte Konzert. Das war schon eine richtig große Nummer.
Im Programmheft steht leider nicht der Text des Stückes, auch ist nicht erwähnt, dass der Komponist Martín Palmeri aus Buenos Aires, der auch hier den Klavierpart übernommen hat, jüdischen Glaubens ist. Er wollte „mehr Menschen die Teilnahme ermöglichen, die nicht denselben Glauben haben und deshalb in der Messe die Züge Gottes hervorheben, die für Christen, Juden und Muslime Gültigkeit haben“. Daher wurden alle Verweise auf Christus – mit Ausnahme des Lamm Gottes - gestrichen. Im reduzierten Credo wird aber der Glaube an Gott festgeschrieben. Palmeri schrieb viele Vokal- und Instrumentalwerke, die aber meist nur lokale Verbreitung gefunden haben. Am bekanntesten ist sein „Misatango“, ein opulentes Werk mit Kammerorchester, Bandoneon, Sopranstimme, Klavier und Chor. Und eine herrliche Mischung aus Tangomusik, mit Anklängen an Bach, Mozart und Verdi, natürlich mit jeder Menge Astor Piazzolla und Quadro Nuevo. Nun fragt man sich vielleicht, ob der Charakter einer Heiligen Messe hier überhaupt erreicht werden kann. Denn ob die religiöse Versenkung bei der Anbetung Gottes, der Bitte um ewiges Leben und um Verzeihung der Sünden wirklich greift, darf leicht bezweifelt werden, dazu ist der Tango zu sehr anrüchig, hat Verruchtheit, Leidenschaft und Schmerz; das Werk ist zu bunt, zu laut und zu vielfältig. Und auch zu spannend – was bei einer Mozart-Messe aber auch nicht anders ist.
Den lateinischen Text, die lateinamerikanischen Rhythmen und die einschmeichelnden Melodien und Harmonien – diese Verbindung übersetzt der hoch aufmerksame Chor in stets engagierten, ungemein ausdrucksvollen Gesang. Mit bewundernswerter Präzision in den Einsätzen, klangschön, angenehm auch in der Höhe. Zwischen manchmal belanglosen, sich wiederholenden Sequenzen schäumt dann auf einmal das argentinische Blut hoch auf zum Feuerwerk, verstärkt von den fremdländischen Klängen des Bandoneons (eindringlich zu erleben: Gilberto Pereyra). Das Neue Rheinische Kammerorchester unter dem routinierten Pablo Quintero, der mit diesem Werk viel unterwegs ist, machte seine Sache mit der, für die Musiker sicher ungewohnten Musik, ausgezeichnet, wenngleich zuweilen etwas mehr Rauigkeit und Energie wünschenswert wäre. Das gilt auch für die Solosängerin, die Finnin Sigrún Pálmadóttir: ihren makellosen Sopran, wunderbar über der Musik schwebend, hätte man etwas sich bisweilen etwas kräftiger und energischer gewünscht. Aber das Stück bietet im Wesentlichen auch nur kurze Sequenzen und kaum eine große Solo-Arie wie sonst oft.
Bezaubernd war es, die vielen hoch aufmerksamen, aber glücklichen Gesichter im großen Patchwork-Chor zu beobachten; immerhin hatten die Sänger viel Zeit und Aufwand in diese Aufführung investiert. Etliche Video-Kameras, Fotografen und Handys waren im Einsatz, um dieses Event festzuhalten. Und geklatscht wurde fast nach jedem einzelnen Stück. Die launige Einführung durch Vorstandsmitglied Irina Gassmann geriet allerdings arg umfangreich, erheblich verlängert durch zwei sehr ausführliche Referate über die Kita „Schatzinsel“, begünstigter Verein des Benefizkonzertes.
Vorangeschoben war noch Palmeris Werk „Die vier Jahreszeiten“, in Anklang an Vivaldi. Zum Einhören gut geeignet ist es eher gehobene Unterhaltungsmusik, hübsch, mit vielen ähnlichen Passagen. Erst im Primavera Portena, dem Frühling, kam spannendes Tangofeeling auf. Das Publikum raste vor Begeisterung, sodass ein Teil der „Jahreszeiten“ wiederholt werden musste. Ein rundum perfekter Abend mit einer tollen Musik; schade, dass es keine zeitnahe Wiederholung gibt.
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