choices: Herr Roth, wie geht es Ihnen ganz persönlich jetzt in dieser Zeit, in der Sie – fast wider Erwarten – wieder Musik vor Publikum machen können?
François-Xavier Roth: Oh, ich bin ganz glücklich! Ehrlicherweise muss ich aber auch sagen, dass ich selbst großes Glück hatte, auch im Lockdown vergleichsweise viel machen zu können. Ich habe mit meinen Ensembles Streamings, Aufnahmen und zahlreiche Workshops gemacht. Aber natürlich ist das Musizieren vor Publikum unsere Raison d’être, insofern bin ich sehr glücklich darüber. Die Freude ist allerdings eine gemischte Freude, denn ich bin immer noch sehr schockiert darüber, wie man mancherorts mit der Kultur und den Kulturschaffenden umgegangen ist.
In Ihrer Funktion sind Sie ja auch eine Art Knotenpunkt für die verschiedensten Stellen. Wie haben Sie es erlebt, wie es den Gürzenich-Musikern, aber beispielsweise auch zeitgenössischen Komponisten ging?
Was die Komponisten betrifft, möchte ich direkt einmal sagen, dass wir seitens des Gürzenich-Orchesters Wert darauf gelegt haben, dass alle Aufträge bezahlt wurden. Und dennoch war es natürlich sehr frustrierend für die Komponisten, dass ihre Musik nicht aufgeführt werden konnte. Auch das sollte ein Denkanstoß sein, vielleicht zukünftig einen radikaleren Weg zu finden, um zeitgenössische Komponisten in das Musikleben zu integrieren. Was die Musiker betrifft, so habe ich über die beiden von mir geleiteten Ensembles, das Gürzenich-Orchester und Les Siècles zwei verschiedene Seiten erlebt. Das Gürzenich-Orchester als städtischer, öffentlicher geförderter Klangkörper auf der einen Seite, Les Siècles als freies Ensemble auf der anderen Seite. Unabhängig von den teils existenziellen Sorgen war es für alle Musiker sehr problematisch, nicht spielen zu können. Und trotz allem muss ich sagen, dass wir als Musiker sehr viel gelernt haben in dieser Zeit darüber, wer wir sind – und zwar ganz persönlich und als Gruppe. Das gibt uns jetzt die unglaubliche Chance, viel präziser unsere Zukunft zu bauen.
Sie haben mit dem Gürzenich-Orchester in dieser Zeit neue Formate entwickelt. Welche davon sollen denn die Krise auch überdauern?
Wir werden mit Sicherheit einige Dinge fortführen und auch noch weitere Sachen werden sich aus der Krise entwickeln. Für mich war es besorgniserregend, zu sehen, wie schnell die Menschen in der Pandemie passiv wurden. Eine Gesellschaft kann sich so schnell radikal verändern! Und eine solche Gesellschaft, in der jeder Zuhause bleibt, es kein soziales Leben mehr gibt und man abends auf dem Sofa Pizza bestellt, möchte ich persönlich nicht. Kultur bewegt uns und ändert uns im besten Sinne. Mit diesem Gedanken im Kopf ist meines Erachtens nach der Krise unsere Verantwortung als Musiker noch einmal gewachsen.
Hat sich in der Krise Ihr Verhältnis zum Publikum verändert?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich habe in den vergangenen Monaten endlich Zeit gehabt, die vielen Briefe, die ich bekommen habe, zu lesen und zu beantworten. Wir gehen ja gemeinsam – Musiker und Publikum – durch diese Zeit. Das verbindet uns und kann eine Beziehung auch stärken. Jetzt haben wir wieder das Publikum in einer geringen Menge und arbeiten mit kleinen Formaten, aber ich freue mich natürlich auch wieder darauf, nach einem ausverkauften Konzert einen Empfang mit Sekt und Kölsch machen zu können und sich mit dem Publikum direkt auszutauschen. Ich denke, wir haben uns alle verändert – auf beiden Seiten. Und dieser neue Austausch, die zahlreichen neuen Ideen begeistern mich. Die Kreativität, die in der Krise entstanden ist, begeistert mich und ich bin voll dieser Kreativstimmung.
Sie sind jetzt schon einige Jahre beim Gürzenich-Orchester und haben Ihren Vertrag verlängert. Welche Ideen und Wünsche, die Sie anfangs hatten, haben Sie schon umsetzen können und was steht noch auf der Agenda?
Eigentlich steht alles noch auf der Agenda. Als ich nach Köln kam, stellte sich mir zuerst die Frage: „Was ist Köln? Und was ist das Gürzenich-Orchester?“ Denn das Orchester ist ein Spiegel der Gesellschaft und das Gürzenich-Orchester ganz klar ein Kölner Orchester. Diese Idee des Stadt-Orchesters ist mir sehr wichtig und möchte ich weiter intensivieren. Wir wollen für alle Bürger spielen und nicht nur für unsere Abonnenten, die ohnehin musikaffin sind. Alle Menschen brauchen Musik und jeder kann verändert werden durch Musik. Davon bin ich überzeugt. Köln ist eine ganz besondere Stadt, die ich sehr liebe und immer vermisse, wenn ich nicht dort bin. Das Zusammenleben in Köln ist sehr besonders, was vielen Einwohnern vermutlich gar nicht so bewusst ist. Inhaltlich habe ich mich in den vergangenen Jahren auf die Tradition des Orchesters berufen – es hat in seiner langen Geschichte beispielsweise mit Komponisten wie Brahms und Mahler zusammengearbeitet. Hinzu kommt die rheinische Tradition, in der das Orchester natürlich auch steht, also beispielsweise der Bezug zu Beethoven, Schumann und Stockhausen. Das ist eine Tradition, der sich das Gürzenich-Orchester als Klangkörper auch sehr bewusst ist. Das Orchester hat einen besonderen Bezug zu diesen Werken.
Können Sie uns schon einen kleinen Ausblick auf die kommende Saison geben?
Es wird ein musikalisches Feuerwerk geben mit Werken von Richard Strauss, mit dem ja das Gürzenich-Orchester in der Vergangenheit schon gearbeitet hat. Wir werden den Bruckner-Zyklus fortsetzen und besonders freue ich mich auf Gastspiele in Hamburg und Paris mit Zimmermanns „Die Soldaten“. Ein Highlight wird sicherlich auch die Aufführung von Fritz Langs legendärem Film Metropolis in der Kölner Philharmonie – mit einer brandneuen Filmmusik! Es wird sehr viel große Musik geben von Schubert, Brahms oder Tschaikowsky. Als Artist-in-Residence haben wir in der kommenden Spielzeit den Cellisten Jean-Guihen Queyras zu Gast. Ich freue mich sehr darüber, dass wir mit ihm eine Artist-in-Residence-Reihe etablieren können, die wir auch zukünftig fortsetzen wollen.
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